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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Er beugte sich zu ihr nieder und zog sie empor, seine Arme legten sich um die schlanke Gestalt, als wolle er sie festhalten für ewig, und mit eiserner unwiderstehlicher Gewalt preßte er sie an sich. In Henry’s Antlitz stürmte wieder die ganze wilde Leidenschaft jener Herbstnacht, und seine Brust hob und senkte sich im furchtbarsten Kampfe, aber es war etwas Edleres als Haß und Wuth, was jetzt in der Seele dieses Mannes wühlte, es war ein stummer, qualvoller Schmerz, der sein ganzes Wesen durchbebte und es bis in die innersten Tiefen hinein erschütterte.

Jane sah diesen Kampf und hatte nicht den Muth, weiter zu bitten, obgleich sie fühlte, daß ein Wort von ihr setzt Alles entschied, sie schwieg und ihr Haupt sank widerstandslos auf seine Schulter, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam aus ihren Augen herab auf seine Hand.

Da fühlte sie plötzlich Henry’s Lippen heiß und zuckend auf ihrer Stirn, es war ein anderer Kuß als jener erste, den sie von ihm empfing, er brannte wie ein Feuermal auf der Stirn. „Lebe wohl!“ klang es glühend, halb erstickt, dann ward sie frei gelassen, zurückgestoßen, und als sie aufblickte, hatte er das Zimmer bereits verlassen – sie war allein.




Der Frühling am Rhein! Das ist ein Gedanke, aus dem es so Manchen anweht mit heißer unwiderstehlicher Sehnsucht. Er kommt zwar überall, ob in den Stürmen und dem Wogen des Meeres, ob in dem frischeren Waldeshauch und dem brausenden Hochwasser des Gebirges, oder in der Blüthenpracht und dem Lerchenjubel der Ebene, aber er lächelt doch nirgends so, wie hier an der Wiege der deutschen Romantik, wo sie ihn umfließt mit all’ ihrem poetischen Hauch. Der Frühling schritt durch die Rheinlande und legte leise die erste segnende Hand auf Felder und Rebenhügel zu künftigem Gedeihen, er schwebte sonnig über Wald und Felsenkluft und blickte hell und licht von den altersgrauen Burgen – der deutsche Frühling, wie er eben nur in diesem Jahre begrüßt und gefühlt ward, wo er einem ganzen Volke das Sieges- und Auferstehungsfest, wo er der Welt den Frieden brachte.

Die weitere Umgebung von B. war heute trotz des herrlichen Wetters wie ausgestorben, und der Herr und die Dame, welche den Weg zum Ruinenberge hinaufstiegen, schienen die einzigen Spaziergänger ringsum zu sein. War es Zufall oder Absicht, Jane hatte heute zum ersten Male die tiefe Trauer abgelegt, ihre Kleidung war noch dunkel und schmucklos, aber sie zeigte doch nicht mehr so ausschließlich das finstere trostlose Schwarz und es schien fast, als sei damit auch der starre, finstere Ausdruck geschwunden, der ihr Antlitz während des ganzen Winters umschattete; es lag dort auch etwas wie Frühlingshauch, wie leises sehnendes Hoffen, das sich nur erst schüchtern hervorwagte unter der kaum gesprengten Eisdecke, das noch nicht den Muth hatte, dem Glücke und der Zukunft voll in’s Auge zu schauen. Es war ein seltsamer, ganz neuer Zug in dem stolzen, energischen Antlitz der jungen Dame, aber er gab ihm etwas, was bisher trotz aller Schönheit darin gefehlt hatte – die Anmuth.

Mr. Atkins, der an ihrer Seite schritt, sah um so grämlicher aus; es schien fast, als empfinde er all die Lenzespracht ringsum als eine persönliche Beleidigung, so grimmig schaute er darauf hin, es ärgerte ihn schlechterdings Alles, was da war, und noch weit mehr Alles, was nicht da war. Er konnte nicht begreifen, weshalb das Grün schon so frühzeitig hervorbrach, es mußte sicher den Nachtfrösten unterliegen; er fand es lächerlich, daß die Sonne schon mit einer wahren Junihitze herabschien, das bedeutete ohne Frage baldigen Regen, und der Rhein war ihm heute vollends ganz und gar zuwider. Denn dieser hatte sich herausgenommen, vorhin die Stiefel des Mr. Atkins zu durchnässen, und großes Verlangen gezeigt, dessen ganze Person in seine feuchte Tiefe hinabzuziehen, was natürlich den höchsten Zorn des Amerikaners erregte. Freilich, es ging ja alles verkehrt in diesem Deutschland, nichts wollte sich mehr dem alten Herkommen und der alten Ordnung fügen, die Natur that es darin nur den Menschen nach. Da war dieser Frühling so ganz vorzeitig und unangemeldet, so gleichsam über Nacht in’s Land gekommen, als habe er es gar so eilig, das neue Reich mit seinem Sonnenschein und Blüthenduft zu grüßen. Da wußte sich das „gelehrte Nest“ dort drüben vor Jubel und Triumph nicht zu lassen, und empfing heute seine Universitäts-Professoren als gefeierte Kriegshelden; da griff dieser Rhein sogar mordlustig nach jeder fremden Nationalität, die sich in seine Nähe wagte; Mr. Atkins war sehr geneigt, in dem Unfall, der ihn vorhin beim Ausgleiten betroffen, eine politische Bosheit zu wittern, hatte er sich doch überhaupt gewöhnt, den Strom als eine Art von persönlichem Feind zu betrachten, den er mit seinem besonderen Haß beehrte; jedenfalls kam er zu dem Resultat, daß es auf diesem Boden nicht länger auszuhalten sei, und daß man je eher, je lieber nach Amerika zurückkehren müsse.

(Schluß folgt.)




Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Von Pfarrer Ferdinand Lucius.


Fünf Minuten von der Heerstraße entfernt, die von Basel und Straßburg, den Rhein entlang, nach Lauterburg und Mainz hinunterführt, liegt die etwa tausend Einwohner zählende Pfarrgemeinde, in welche ich, vor zehn Jahren bereits, berufen wurde, nachdem ich dreizehn Jahre lang droben bei Buchsweiler, am Fuße der Vogesen, im alten Hanauerlande, als protestantischer Geistlicher im Amte gestanden. An landschaftlichen Schönheiten hat die Umgebung, eine durchweg flache Riedgegend, wenig oder nichts aufzuweisen, aber deshalb ist sie doch nicht gerade einförmig. Auf zwei Seiten wird der Gesichtskreis durch Waldungen begrenzt, über welche die Vogesen theilweise zum Vorschein kommen, und dort drüben über dem Rhein erheben sich großartig und malerisch die blauen Berge des Schwarzwaldes. Langgestreckt dehnt sich das Dorf mit seinen vielen, die Häuser umgebenden Baumgärten vor dem Blicke aus; hoch über die gelb- und rothbraunen Ziegeldächer ragt stattlich der achteckige, mit Schiefer gedeckte Kirchthurm empor, den der Dichter des Schauspiels „Friederike“ gar sinnig mit einem umgestürzten Blumenkelche vergleicht; und so gewährt das Ganze denn doch ein freundliches und gemüthliches Bild, auf welchem der Beschauer gerne das Auge für eine Weile ruhen läßt.

So wenig Reize aber das stille, abgelegene Dorf auch bieten, so unbedeutend es an sich selbst von vornherein auch scheinen mag, es geht von ihm darum doch eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, und jedes neue Jahr hat der Besucher eine bald größere, bald geringere Anzahl aufzuweisen. Da kommen denn in buntem Durcheinander Studenten von Heidelberg und Polytechniker von Karlsruhe, Schriftsteller und Künstler, Richter und Landräthe, Pastoren und Officiere (letztere ganz besonders zahlreich vertreten während der jüngsten Kriegsereignisse), Deutsche und Franzosen, ja Russen selbst, und hie und da sogar noch ein Engländer. Und Alle richten ihre Schritte stracks nach dem Pfarrhof hin und treten, schüchtern meist und sich entschuldigend, bei mir ein. Was sie suchen und wünschen und wollen, das haben sie nicht nöthig mir vorerst zu sagen; auch komme ich gewöhnlich ihrer Bitte zuvor und stelle mich ihnen bereitwillig zur Verfügung.

Und was wollen und suchen denn nun eigentlich, so wird wohl der geneigte Leser fragen, diese Fremden, die nach dem abgelegenen Dorfe und zu dem unbekannten Pastor pilgern? – Sie wollen nichts Anderes, als die Stätten besuchen, wo vor jetzt gerade hundert Jahren der große deutsche Dichter geweilt; sie wollen die Orte sehen, wo Goethe so selige Augenblicke erlebt in jugendlichem Liebesrausch, und wo Friederike so namenloses Leid still und ergeben viele Jahre hindurch im gebrochenen Herzen getragen. Das Pfarrhaus, das ich bewohne, ist eben kein anderes, als das Pfarrhaus zu Sessenheim. So nämlich wird der Name in allen älteren und neueren amtlichen Acten geschrieben, obgleich Goethe, und nach ihm alle Schriftsteller, beharrlich Sesenheim schreiben. Ganz alte, im Pfarrarchiv aufbewahrte Documente haben Seßenheimb und Süßenheim. Im Volksmund heißt das Dorf Saes’m.

Aber das alte, das berühmte, das erinnerungsreiche,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_452.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2020)