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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Goldsmith’s Vicar of Wakefield Olivia genannt. Sie scheint eine urwüchsige, praktische, auf die realen Aufgaben des Lebens gerichtete Natur gewesen zu sein, die, allem sentimentalen Wesen abhold, für ein poetisches Sichgehenlassen und müßiges Schwärmen keinen Sinn hatte, sondern darin ihre Freude fand, ihrer Mutter in der Sorge um die ausgedehnte Haushaltung hülfreich zur Seite zu stehen und im häuslichen Kreise und täglichen Leben sich bestens nützlich zu machen.

Dem Alter nach kommt nun Friederika Elisabetha, Goethe’s Friederike, deren Geburtsjahr bekanntlich ebenso wenig genau mehr festgestellt werden kann, als das ihrer Schwester, nachdem das Kirchenprotokoll der Pfarrei Niederrödern, wo sämmtliche Kinder des Pfarrers Brion geboren wurden, im Revolutions- und Schreckensjahre 1793 in den Flammen aufging. Da aber Friederikens und ihrer Schwester Confirmationstag in dem Sessenheimer Kirchenbuche aufgezeichnet ist, und hier zu Lande die Kinder gewöhnlich in ihrem vierzehnten Jahre confirmirt werden, so können wir das Geburtsjahr derselben doch annähernd wenigstens bestimmen. Und darnach wäre Friederike etwa 1752 geboren, während man gewöhnlich 1754 setzt.

Der vierten Tochter Jacobea Sophia, etwa vier Jahre jünger als Friederike, wird von Goethe mit keiner Silbe Erwähnung gethan. Festgestellt ist, daß sie nach dem Tode der Eltern längere Zeit mit Friederike zusammen in Rothau lebte; später siedelte sie nach Niederbronn über, wo sie denn auch bis zu ihrem am 27. December 1838 erfolgten Tode verblieb und allgemein unter dem Namen „Täntele“ bekannt, geschätzt und geachtet war. Sie soll denen gegenüber, welche Näheres über die früheren Verhältnisse ihrer Familie von ihr zu erfahren wünschten, sehr wortkarg und zurückhaltend gewesen sein und wich – von Goethe jederzeit mit großer Achtung sprechend – den an sie gerichteten Fragen gewöhnlich dadurch aus, daß sie sagte, sie sei damals zu jung gewesen, um mehr davon zu wissen. Bekannte selbst konnten ihr nur in seltenen Augenblicken und bruchstückweise vertrauliche Mittheilungen aus ihrer Jugendzeit entlocken; und noch seltener geschah es, daß sie die aus jenen Tagen stammenden sorgfältig verwahrten Briefschaften und Papiere hervorholte, um den sehnsüchtig und mit gespannter Neugierde Harrenden einen flüchtigen Einblick in dieselben zu gestatten. Kurz vor ihrem Tode hat sie, wie man mich versichert, aus allzu großer Besorgniß, eine gewisse Anzahl Goethe’scher Briefe dem Feuer übergeben. Einige seiner in Friederikens Liederbuch von ihm eingetragenen Gedichte jedoch sind gerettet und durch Professor August Stoeber in Mühlhausen, unsern elsässischen auch in weiteren Kreisen wohlbekannten Dichter und ebenso treuen als kundigen Pfleger vaterländischer Culturgeschichte, herausgegeben worden, zuerst im Musenalmanach von Chamisso und Schwab (1838), dann 1842 in seinem Schriftchen „Der Dichter Lenz und Friederike von Sessenheim“. Die Originalien dieser Gedichte jedoch standen Stoeber nicht mehr zu Gebote. Sophie Brion hatte dieselben einem Unwürdigen anvertraut, welcher sie treu- und ehrlos für sich behielt. Was aus denselben geworden ist, weiß ich nicht anzugeben. Die Abschrift aber, welche Friederikens Schwester Aug. Stoeber mittheilte, war nach ihrer ausdrücklichen Versicherung eine durchweg wortgetreue.

Was Goethe’s Autograph seiner für die Sessenheimer Freunde übersetzten ossianischen Gesänge von Selma betrifft, welches sich in Aug. Stoeber’s Besitz befindet, so ist ihm dasselbe nicht von Sophie Brion zugekommen, wie mein ehrenwerther Landsmann dies selber mir mitzutheilen die Güte hatte. Christian Brion hatte das kostbare Manuscript dem auf’s Freundschaftlichste mit ihm verbundenen Pfarrer Küß zum Alten St. Peter in Straßburg geschenkt; von diesem ging es an dessen Verwandten, unsern reichbegabten alsatischen Sänger Ehrenfried Stoeber über, welcher es seinem Sohne hinterlassen hat. Aug. Stoeber hat es bekanntlich in seinem Lenzbüchlein abdrucken lassen (es weicht an einigen Stellen von der im „Werther“ aufgenommenen Uebertragung ab) und gleichzeitig ein Facsimile davon mitgetheilt.

Nun noch schnell ein Wort über den Moses der Brion’schen Familie. Derselbe ist „1763 den 18. Martii zur Welt geboren und sogleich zur rothen Fluth der heiligen Taufe gebracht und benamset worden Christian.“ Daß er etwas vorlaut und verzogen gewesen und ihm mancherlei Freiheiten im elterlichen Hause gestattet waren, wird uns nicht sonderlich befremden, wenn wir bedenken, daß er das jüngste Kind, der einzige Sohn war, und daß seine bedeutend älteren Schwestern bestens mitgeholfen haben mögen ihn zu verwöhnen, um ihm die liebe Knabenzeit ja nicht zu verkümmern. Er ist darum doch ein wackerer und braver Pfarrer geworden.

Von Goethe selbst, der am 2. April 1770 nach der damals weitberühmten Universitätsstadt Straßburg gekommen war, um seine in Leipzig begonnenen juristischen Studien zu vollenden, und der so tief und so nachhaltig eingreifen sollte in die Geschicke der Sessenheimer Pfarrfamilie, entwirft sein Biograph G. H. Lewes ein so treues und anschauliches Bild, daß ich nicht umhin kann, dasselbe hier wiederzugeben.

„Er hatte das zwanzigste Jahr überschritten, und nie vielleicht war ein schönerer Jüngling durch Straßburgs Mauern eingezogen. Lange bevor er berühmt war, fand man ihn einem Apoll ähnlich; wenn er in ein Speisehaus trat, legten die Leute Gabel und Messer nieder und staunten ihn an. Bilder und Büsten geben nur eine schwache Andeutung von dem, was in seiner Erscheinung am meisten ergriff; nur den Schnitt der Züge geben sie, nicht deren Spiel, und selbst in den bloßen Formen sind sie nicht genau. Seine Züge waren groß und frei geschnitten, ähnlich wie die schönen leichten Linien der griechischen Kunst. Die Stirn hochgewölbt und mächtig; unter[WS 1] ihr hervor schienen große, glänzende braune Augen von wunderbarer Schönheit, mit Pupille von fast beispiellosem Umfang; die ein wenig gebogene Nase groß und fein geschnitten; der volle Mund mit der kurzen aufgeworfenen Oberlippe höchst ausdrucksvoll; Kinn und Kinnbacken von kühnem Bau, und der Nacken, der diesen Kopf trug, schön und kräftig. … Von Gestalt war er über Mittelgröße; aber, obgleich eigentlich nicht groß, sah er doch so aus, und wird gewöhnlich auch so beschrieben, so imposant war seine Erscheinung. Stark und kräftig gebaut, war seine Organisation doch zart und reizbar. … Ausgezeichnet in allen körperlichen Uebungen, war er gegen alle atmosphärischen Einflüsse so empfindlich, daß er sich selbst ein Barometer nannte.“ –

Diese äußeren Vorzüge aber und diese körperliche Schönheit waren es nicht allein, was ihn auszeichnete vor Vielen. Sein ungewöhnlich begabter jugendlicher Geist strotzte schon damals von einer so üppigen Fülle von Kraft und Leben, in seinem Innern wogte unaufhörlich eine solche Masse von großartigen Gedanken, kühnen Entwürfen und bahnbrechenden Bestrebungen auf und nieder, daß wir nur dann einen annähernden Begriff von seinem geistigen Zustande uns machen können, wenn wir die staunenerregende, vielseitige und ruhmreiche schriftstellerische Thätigkeit in’s Auge fassen, welche er in der Folgezeit entwickelt und an den Tag gelegt. Auch in jener Zeit schon trug er den Vorsatz mit sich herum, den ihm liebgewordenen Götz von Berlichingen, „diesen gewaltigen Mann in wilder anarchischer Zeit“, dramatisch darzustellen; und auch die Sage von dem Zauberer Faust „klang und summte gar vieltönig in ihm wieder“. In seinem unersättlichen Wissensdrang griff er begierig allenthalben zu, wo er geistige Nahrung und wissenschaftliche Befriedigung zu finden hoffte, und studirte zu derselben Zeit und mit demselben Eifer Medicin und Literatur, Chemie und gothische Baukunst, Homer und Ossian, Lessing und Shakespeare. Sein eigentliches Fachstudium trieb er jedoch nur mit mäßigem Fleiße, und blos insoweit, als er es nothgedrungen thun mußte, um den Anforderungen des gestrengen Herrn Vaters, annähernd wenigstens, Genüge zu leisten. Unter seinen Freunden und Bekannten übte ganz besonders der um nur wenige Jahre ältere, aber bereits zu einer gewissen Reife gelangte Johann Gottfried Herder einen bedeutenden und „anregenden“ Einfluß auf ihn aus, „und riß ihn fort auf dem herrlichen breiten Wege, den er selbst zu durchwandern geneigt war“.

Herder war als Reiseprediger des Prinzen Friedrich Wilhelm von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, und benützte nun diesen Aufenthalt, der mehrere Monate dauerte, um sich durch Professor Dr. Lobstein von einem langwierigen und lästigen Augenübel, einer Thränenfistel, heilen zu lassen. Er war es auch, der Goethe und einige andere Freunde mit dem englischen Roman „Der Landpriester von Wakefield“ „ durch selbsteigene Vorlesung der deutschen Uebersetzung“ bekannt machte. Dieses Umstandes gedenke ich hier nur darum, weil aus demselben die erste Veranlassung zu Goethe’s Besuch in Sessenheim hervorgegangen ist.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_455.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)