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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 28.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Geheimniß des alten Kärner.
Von Emile Mario Vacano.
(Schluß.)


Marie schaute mit ihren ruhigen traurigen Augen von der Gräfin zu ihrem Vormunde hinüber und dann wieder zurück. „Eine Sünde?“ sagte sie. „Mein armer todter Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte: Sprachen, Erdkenntniß, Himmelskunde und die Wissenschaft der Pflanzen. Sonst hat er mich nichts gelehrt. Mit diesem Allen kann ich nicht mit der Welt leben, wohl aber für die Welt. Ich kann lehren – aber ich kann und – mag nicht vegetiren.“

„Vegetiren! Sie nennen es vegetiren, Fräulein, wenn Sie mit Menschen fröhlich sind, jung und liebenswürdig, wie Sie sind?“

„Pardon, Frau Gräfin! Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte. Aber er hat mich nicht gelehrt, die Menschen zu – lieben.“ Marie sagte das wieder in ihrer ruhigen Weise. Aber ihr Auge ruhte traurig auf einem unsichtbaren Gegenstande.

Die alte Gräfin hatte ein heftiges Zucken um den Mund. Sie war manchmal nervös. Und wie sie wieder ruhig schauen konnte, war eine wirkliche Thräne in ihrem Auge. Sie hielt Mariens Hand in der ihrigen. „Ihr armer Papa hat die Menschen nicht geliebt …“ sagte sie leise.

„Er hat sie auch nicht gehaßt,“ antwortete Marie ebenso. „Ich habe vorhin unter den Wissenschaften, die ich ihm verdanke, eine vergessen; neben den Sprachen, der Himmelskunde und der Erdkenntniß auch … die Menschenkenntniß.“

„Die Menschenkenntniß!“ eiferte Herr Volkner. „Das ist ja eben das Unverantwortliche bei der Sache! Dieses arme junge Ding da, Frau Gräfin, ist uralt gemacht worden in ihrem Innern! Sprechen Sie ihr von Illusionen! Und ich und meine alte kleine Frau, wir sind im Stande, uns heute noch einzubilden, wir hätten ein Kind, wenn Marie zu uns ziehen wird! Aber fragen Sie nach dergleichen bei diesem Mädchen! Nichts! Da bringt der Frühling die Raupen und der Winter die Fröste!“

Die Gräfin nickte ihm freundlich zu. „Ja!“ sagte sie. „Ja wohl. Fräulein Marie, ich darf Ihnen nicht mehr anbieten, mit mir zu ziehen, denn bei Herrn Volkner werden Sie eine zweite Elternstätte finden. Aber Ihren Plan dürfen Sie nicht ausführen. Ich sage Ihnen jetzt nichts mehr – denn ich sehe, daß Sie entschlossen sind. Und bei einem Entschlossenen verliert man die Stimme. Alles aber, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, und meinen plötzlichen Einfall bei Ihnen nehmen Sie freundlichst als einen Beweis meines innigen Gefühls für Sie und meiner treuen Erinnerung an meine eigene Jugend, wo ich oft lachend mit Ihrem seligen Vater geplaudert habe. Sie werden also dieses Landhaus verkaufen? Ich erinnere mich, daß ich zwei Mal in diesem Zimmer hier gewesen war als Mädchen – noch mit meinem seligen Gatten, mit meinem seligen Vater, und …. wir nahmen einmal hier ein Goûter. Und“ – die Gräfin war nicht mehr so wachsbleich wie sonst, als sie dies sagte, sondern sanft geröthet – „und ich wollte Ihnen noch eine Frage stellen, mein liebes, liebes Fräulein. Hat Ihr Papa sich nie an mich erinnert in seinen letzten Tagen? Hat er – hat er nicht einen Brief an mich zurückgelassen? Sterbende … Sterbende haben manchmal solche Erinnerung, und … und er hat mir einst versprochen, nicht … nicht zu vergessen, mir noch einen … einen Gruß zu senden, wenn er … wenn er …“ Die Gräfin athmete schwer, als sie zu Ende sprach, immer schwerer, als sie von Niemandem unterbrochen wurde, und als sie in den Augen ihrer beiden Gesellschafter kein Aufblitzen des Verständnisses fand. Zuletzt verstummte sie mitten im Satze. Ihre Augen waren sehr hell und groß, ihr Profil sehr schlaff, und sie mußte ihre Lippen mit der Zunge befeuchten.

„Nein,“ sagte Marie, „nein, Frau Gräfin.“

„Nein!“ erhärtete Herr Volkner.

Die Gräfin lächelte. „O, man hat den Brief vielleicht nicht gefunden. Natürlich! Die Papiere eines Todten können erst langsam in Ordnung gebracht werden, natürlich! Und …“

„Pardon, Frau Gräfin!“ sagte Herr Volkner eifrig. „Aber die Papiere des Verstorbenen sind bereits alle geordnet und geschichtet. Heute eben habe ich das Geschäft vollendet!“ fuhr er ebenso fort. „Sie sehen hier den Papierhaufen auf dem Fußboden, der ist zum Verbrennen verurtheilt. Da aber sind Acten, Documente –“

Die Gräfin ließ einen raschen, gierigen, durstigen Blick über die Papiere laufen. Sie hatte dabei immer ihr schlaffes Profil, und ihre Zunge berührte ihre Lippen wiederholt. „O, natürlich!“ machte sie zum dritten Male, „wer gedenkt auch an Alles im Alter, in der Krankheit!“ – Sie faßte fest, fest die Hand Mariens, und ihre Lippen waren jetzt dicht aneinandergepreßt, wie vom innerlichen Weinen. Dann lächelte sie wieder ihrem eigenen Blicke nach, der durch das Zimmer flog bis in das Frischgrün der Fensteracazien hinein, wie ein Vogel, der sich verirrt hat. „Und dieses Landhaus wird verkauft – mit allen Möbeln, die es enthält?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_461.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)