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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Cousin Stasingen wurde sein lachender Camerad im Reiten und Fahren. Und eines Abends erbrach mein Cousin Stasingen die Casse des Kaufmannshauses Joh. Jakob Kärner.“

Graf Leon machte eine jähe Bewegung. Die Gräfin, ruhig wie eine Statue, erhob ihre Hand.

„Der Geist meines armen Gatten, Deines Vaters, hat jetzt Ruhe,“ sagte sie. „Ich habe die Beichte abgelegt – für ihn. Ein Sohn kann nichts thun, als seinen Vater lieben. Ein Fremder könnte ihn beschimpfen. Und das Geheimniß mußte emporblühen aus seiner Samengruft. Der Adel des Fehltritts ist der Muth des Geständnisses. Gott segne meinen armen Mann!“

Die Gräfin faltete die Hände über ihrem Sohne, der in seinem Fauteuil in sich selber zusammenfiel.

„Er war schön, jung, von überreichen Cameraden umschwirrt. Er verlor den Halt in sich. Es ist ein Fluch unseres Standes, daß wir die Armuth für eine Ungerechtigkeit halten. Wir glauben, Gott sei uns den Reichthum schuldig, wie der Bucklige grollend glaubt, er habe ein Anrecht auf die Schönheit gehabt.

Mein Cousin wurde bei seinem Fehltritte ertappt. Zuerst von dem alten Cassendiener, welcher die That sah und von dem Thäter verwundet wurde. Dann kam der Sohn des Hauses, der im Geschäftsgebäude schlief, dazu. Der ließ seinen ‚Freund‘ entkommen, mit den Worten: ‚Fliehen Sie vor der Strafe, da Sie der Schande nicht mehr entfliehen können.‘ Ich wußte Alles noch in derselben Nacht. Das Entsetzen über die That, aber noch mehr die Verzweiflung um den Geliebten[WS 1] meines Herzens, raubten mir fast den Verstand. Im Morgengrauen eilte ich an eine Stelle, wohin ich den Kaufmannssohn bescheiden ließ. Ich wußte, daß er mich liebe, und ich wußte, daß sein einfaches bürgerliches Herz treuer und echter und länger an mir hängen werde, als andere Herzen.

Ich beschwor ihn, meinen Cousin, meinen Namen, meine Familie vor der Schande zu retten. Ich faltete meine Hände, ich fiel auf die Kniee, und küßte seine Hand! Ich gestand ihm in meiner Verwirrung, daß ich ihn nie geliebt habe, sondern nur in meinem Vetter lebe mit Herz und Seele, und das, was jeder für eine Ungeschicklichkeit halten würde, wurde uns zur Rettung. Daniel Kärner weinte bitterlich. Ich sehe noch heute, wie der Diamantring an seinem Finger und die Goldkette an seiner Brust dabei vibrirten, diese beiden Dinge, um derenthalben ich ihn so verachtete! Er weinte bitterlich, und die Verzweiflung über sein verlorenes, zertretenes Herzensleben machte ihn toll. Was lag ihm über dem Grabe seiner Liebe an der Ehre, an seiner Zukunft, an seinem Leben! Es hat junge Männer gegeben, die sich tödteten aus Schmerzen über das Zerfließen einer ersten Illusion. Daniel Kärner that mehr. Die Sache war von seinem Vater bereits den Gerichten angezeigt. Daniel Kärner, den man allein neben dem bewußtlosen Diener gefunden hatte, gestand ein, die That verübt zu haben.

Die Sache wurde nun vertuscht mit vielen Kosten; aber der Makel blieb auf dem jungen Kaufmann. Man wies mit Fingern auf ihn. Er verließ die Stadt, das Land. Vor seiner Abreise schrieb ich ihm einen Brief. Mein vor Scham brennendes Herz dictirte ihn mir in die Feder. In diesem Briefe gestand ich der ganzen Welt die Verirrung meines Verwandten und den Edelmuth und die Unschuld des jungen Menschen. Daniel Kärner ging in ein fremdes Land, ohne von dem Briefe Gebrauch zu machen. Aber er sandte ihn mir auch nicht zurück. Er schrieb mir: ‚Ich behalte den Brief, denn ich werde ihn vielleicht einst für meine Kinder brauchen, oder für ein Ereigniß, welches ich voraussehe‘. Ich wußte, was er damit meinte; ich heirathete meinen Cousin, der Tod eines reichen geizigen Onkels machte uns reich, aber nicht glücklich; die Jugendsünde lastete auf dem Gemüthe Deines Vaters, er suchte sich zu betäuben. Nach dem Tode des alten Kärner, viele, viele Jahre später, kehrte Daniel in seine Heimath zurück, er brachte eine Frau und ein Kind mit, er verkaufte das Geschäft, denn der Makel war auf seinem Leben geblieben, und er zog in das Landhaus, wo er ein einsames Leben führte. Nur zweimal noch hat er das Schloß betreten, mit dem Briefe in der Hand; es war, als Dein Vater sich so stark betäubte, daß Daniel Kärner mich unglücklich wähnte. Kannst Du Dir ein edleres Herz denken, Leon? O Gott! ich habe ihn geliebt, geliebt, seit er fortgegangen war, es war eine Liebe, unerträglich in ihrer Reue, aber selig süß in ihrem stillen Cultus. Nun ist er todt, der Tod hatte ihn zu schnell überrascht, als daß er selber mir den Brief hätte zurückstellen können, heute hat ihn sein verwaistes Kind gebracht, sie kennt dessen Inhalt. Leon, du weißt, man hat deinen todten Vater für hochmüthig gehalten, aber sein Hochmuth war sein Gewissen. Du weißt, ich werde für hochmüthig gehalten, aber mein Hochmuth ist die Erinnerung. Und Du bist einsam erzogen worden – für denselben Hochmuth, Leon, für den Hochmuth der Demuth, die Du üben sollst. Leon! Marie Kärner, das Mädchen, dessen Kindheit durch unsere Schuld verdüstert und freudenleer geworden ist, ich möchte es glücklich sehen, ich möchte für sie sorgen dürfen Tag für Tag. Sie ist wohlhabend, aber freundlos; blühend, aber traurig. Ich möchte sie zu mir nehmen; ich werde mir schon ein Recht erdenken dafür, ihr selber gegenüber, daß sie kommen muß! Leon, willst du mir darin helfen. Willst du mich unterstützen in meiner Pflicht, in meiner Sühne, indem du Mariens Bruder wirst?“

Leon war schon längst vor seiner Mutter auf den Knieen gelegen, und hatte ihre Hände an seine Lippen gepreßt. Jetzt, wie ihre Hand halb bittend und halb segnend über sein Haar fuhr, schaute er zum ersten Male auf, thränenüberströmt, und durch diese Thränen lächelnd: „Aber, Mama, ich liebe sie ja – ich liebe sie unaussprechlich! Und ich glaube, sie – sie liebt mich wieder.“




Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Vom Pfarrer Ferdinand Lucius.
(Fortsetzung.)


Ueber den „Landpriester von Wakesfield“, „welches Werk einen großen Eindruck bei ihm zurückgelassen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte“, unterhielt Goethe sich eines Tages denn auch mit seinem Tischgenossen Weyland, „der sein stilles fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er, aus dem Elsaß gebürtig (er war aus Buchsweiler), bei Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach“, und erfuhr von demselben, daß „nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg“, eine Pfarrfamilie lebe, welche mit der von Goldsmith geschilderten in vielfacher Hinsicht die größte Aehnlichkeit habe. „So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewöhnt hatte, alle abzumüßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzubringen.“

Weyland mußte versprechen, ihn in dieser Familie einzuführen, und es wurde alsobald beschlossen, den Ausflug nach Sessenheim ohne alles Zögern zu unternehmen. Aber auch diesmal konnte Goethe seiner „von Jugend an, selbst durch den ernsten Vater in ihm erregten Kunst sich zu verkleiden“ nicht widerstehen; mittelst eigener älterer und einiger erborgter Kleidungsstücke, sowie durch die wunderliche Weise sein Haar zu kämmen, wußte er sich das Aussehen eines ärmlichen Studenten der Theologie zu geben. An einem der ersten Octobertage, bei herrlichstem Wetter und in der heitersten Laune ritten beide Freunde auf der Landstraße dahin, und Weyland konnte sich oft des Lachens nicht erwehren, wenn Goethe, der gewandte Reitersmann, „solche Figuren, die man lateinische Reiter nennt, nachzuahmen wußte“. Wohlgemuth kamen sie in Sessenheim an, „ließen ihre Pferde im Wirthshaus stehen und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe“. „Laß Dich,“ sagte Weyland zu Goethe, indem er ihn das Haus von Weitem zeigte, „laß dich nicht irren, daß es einem alten und schlechten Bauernhause ähnlich sieht, inwendig ist es desto jünger.“

Pfarrer Brion war allein zu Hause, bald aber erschien die Mutter und kurz nachher die älteste Tochter, Beide auf ihre Weise und in ihrer Art angelegentlich, ja ängstlich sogar, nach Friederike sich erkundigend. Goethe’s Neugierde wurde im höchsten Grade gespannte; endlich kam auch sie, die Heißersehnte, und – „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gelieben
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_467.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)