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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


hypochondrischen, abergläubischen Grillen“ den Abschied gab[1] und bei Lösung der Pfänder die Gelegenheit benutzte, die „so zärtlich Geliebte recht zärtlich zu küssen“, wenn an jenem stillen Plätzchen das überglückliche Paar „durch die herzlichste Umarmung“ sich gegenseitig „die treulichste Versicherung gab, daß sie sich von Grund aus liebten.“ – Einer förmlichen Verlobung erwähnt Goethe in seinen Aufzeichnungen mit keinem Worte (was übrigens durchaus nicht beweist, daß eine solche nicht stattgefunden); jedenfalls schied er diesmal als erklärter Liebhaber aus der Familie, und er selber sagt: „des lieben Mädchens immer mehr annäherndes, zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich recht glücklich, daß sie mir diesmal beim Abschied öffentlich, wie andern Freunden und Bekannten, einen Kuß gab.“

Jetzt wurde ein regelmäßiger Briefwechsel mit der Geliebten eingeleitet. „Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe, sie mochte etwas Neues erzählen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern, vorübergehend reflectiren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, springend, so leicht aufträte als sicher. Inhalt und Styl war natürlich, gut, liebevoll, von innen heraus, ihre Hand leicht, hübsch, herzlich.“ Auch Goethe „schrieb sehr gerne an sie,“ schickte ihr Gedichte, welche sie ihm eingegeben, Bänder, die er für sie gemalt, Bücher, die er zu ihrer weitern Ausbildung sowohl als auch zur Unterhaltung für sie ausgewählt, „denn sie las sehr gerne Romane; man findet darin, sagte sie, so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.“

Goethe’s „Leidenschaft wuchs, je mehr er den Werth des trefflichen Mädchens kennen lernte“; das Verhältniß wurde immer inniger, und immer von Neuem wurden die ihm zum unabweislichen Bedürfnisse gewordenen Besuche wiederholt … und auch ausgedehnt. Sagt er doch selber: „Wir hatten eine Zeit lang zusammen still und anmuthig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, ‚den Landpriester von Wakefield‘ nach Sessenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermuthet zu überreichen, als hätte es weiter gar nichts zu sagen. Die Gewohnheit zusammen zu sein befestigte sich immer mehr und mehr; man wußte nicht weiter, als daß ich diesem Kreise angehöre. Man ließ es geschehen und gehen, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte.“

„Unbeachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war,“ weil man sowohl auf Friederikens Gesinnungen, als auch auf Goethe’s Rechtlichkeit glaubte völlig vertrauen zu können, machte das liebende Paar Spaziergänge in der nächsten Umgebung, sowie auch größere Ausflüge (diese wohl ganz besonders während des sechswöchentlichen Aufenthaltes, den Goethe von Mitte April bis Ende Mai 1771 in Sessenheim machte). „Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheins in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier in den traulichen Fischerhütten[2] vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau, wurden die Freunde und Verwandten besucht“ und nur „seiner wunderlichen Studien und übrigen Verhältnisse wegen“ kehrte Goethe öfters in die Stadt zurück. Ja, so weit war es gekommen, daß, „weil es ihm unmöglich war, innerhalb vierzehn Tagen auf das Land zu kommen,“ die Mutter Brion sich entschloß, mit ihren Töchtern zu den Verwandten nach Straßburg zu reisen, „da man sich denn lieber in der Stadt, und mit einigem Zwange, als gar nicht sehen wollte.“

Das Band der herzinnigsten Liebe schien unauflöslich fest, für das ganze Leben um die zwei gleichgestimmten Seelen geschlungen zu sein. Und doch, gerade jetzt nahte rasch und unaufhaltsam die Stunde, wo es gewaltsam gelöst und auf immer zerrissen werden sollte. Wie aber und warum ist es so gekommen? Durch wen oder durch was wurde diese so unerwartete Wendung der Dinge herbeigeführt? – In seiner Lebensbeschreibung giebt uns Goethe keine Antwort auf diese Frage; mit keiner Sylbe spricht er sich darüber aus, wie es kam, daß sein Verhältniß mit Friederike so plötzlich abgebrochen wurde. Denn wenn er sagt: „nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare Prüfung ausstehen,“ so giebt uns dieses Wort keine Andeutung, geschweige denn eine Erklärung. Man hat darum die Vermuthung aufgestellt, daß der Besuch der Frau Brion mit ihren beiden Töchtern in Straßburg Veranlassung dazu gegeben habe, daß die Mädchen sich ungeschickt und täppisch in den ungewohnten Verhältnissen benommen, daß sich Goethe seiner Geliebten habe schämen müssen; ein Schriftsteller geht sogar so weit, daß er sagt: „In den Gehölzen von Sessenheim war Friederike eine Nymphe des Waldes, im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin.“ In dem Benehmen der älteren Tochter, nun ja, da mögen allerlei kleinliche Verstöße gegen die Schicklichkeit und den feinen Ton des Stadtlebens vorgekommen sein; „sie bewies sich ungeduldig und wie ein Fisch auf dem Strande;“ aber „das anständige, ruhig edle Betragen der Mutter paßte vollkommen in diesen Kreis, sie unterschied sich nicht von den übrigen Frauen.“ Und Friederike? – „Sie war in dieser Lage höchst merkwürdig. Eigentlich genommen, paßte sie auch nicht hinein; aber dies zeugte für ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zustand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so that sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, setzte sie Alles in Bewegung, und beruhigte dadurch gerade die Gesellschaft, die eigentlich nur von der Langenweile beunruhigt wird … Ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverändert, und auch in dieser Umgebung so frei wie den Vogel auf dem Zweig zu finden.“

Dieser Besuch, oder vielmehr das Benehmen der Sessenheimer Pfarrerstochter bei demselben war es also auf keinen Fall, was die Veranlassung zu dem vorerst gelockerten und bald nachher gelösten Verhältniß wurde. Die Ursache liegt anderswo, und es dürfte wohl nicht so gar schwer sein, dieselbe aufzufinden, wenn man nur ernstlich suchen und wirklich finden will. Goethe hatte sich in diesen Liebeshandel eingelassen und von Tag zu Tag wohler und glücklicher in demselben gefühlt, ohne auch nur einen Augenblick zu bedenken, was aus demselben schließlich noch werden könnte. Jetzt aber rückte raschen Schrittes die Zeit heran, wo er an sein Examen, an seine Disputation … und auch an seine Heimkehr denken mußte. Und auch Friederike – das hatte er erst wieder bei ihrem Straßburger Besuch auf mannigfache Weise wahrgenommen – hing immer inniger und fester an ihm und „schien nicht zu denken, noch denken zu wollen, daß dies Verhältniß sobald endigen könne.“ Nun konnte er die Fragen nicht mehr abweisen, die immer und immer wieder in ihrem ganzen hohen Ernste an ihn herantreten mochten: Kannst und darfst du dem Vater offenbaren, wie du zu der elsässischen Pfarrerstochter stehst? – Wie wird er deine Handlungsweise beurtheilen? – Darfst du hoffen, daß er sie billigen und seine Einwilligung zum früher oder später zu schließenden Ehebündniß geben werde? – Und er kannte seinen Vater, den vornehmen Patrizier, „den kalten, etwas pedantischen, in mancher Hinsicht launigen Mann, dessen Wort im häuslichen Kreise Gesetz war,“ viel zu gut, als daß er hätte erwarten dürfen eine zusagende Antwort erhalten oder gar erzwingen zu können. – Da stand er denn zwischen Thür und Angel, in der peinlichsten Verlegenheit („denn,“ sagt er selbst, „die Ursachen eines Mädchens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die des Mannes niemals“), und wir begreifen leicht, „daß es wie ein Stein von seinem Herzen fiel, als er sie endlich abfahren,“ Straßburg verlassen sah.

(Schluß folgt.).
  1. Eine Anspielung auf das Abenteuer mit Lucinde, der Tochter des Tanzmeisters in Straßburg, welche seine Lippen verwünscht hatte mit den Worten: „Unglück über Unglück auf immer über Diejenige, die zum ersten Mal nach mir diese Lippen küßt.“
  2. Hier ist das zur Pfarrei Sessenheim gehörige Filialdorf Dalhunden gemeint, das zu Goethe’s Zeit nur zu Schiff erreicht werden konnte. Noch am Anfang dieses Jahrhunderts hatten die Rheingüterschiffe ihre Haltestelle da, wo gegenwärtig und erst seit Kurzem sich eine Feldziegelei befindet. – Diese Nebenarme des Rheins sind aber seitdem abgedämmt und der Strom selber weiter gegen Osten getrieben worden. Die vor hundert Jahren noch blos hie und da mit spärlichem Gesträuch bewachsenen, sehr oft unter Wasser stehenden Kiesbänke sind längst mit Kiefern angepflanzt worden, und bilden ein hübsches Wäldchen, durch welches eine gute Fahrstraße, von der Rheinstraße aus, über die Moderbrücke nach Dalhunden führt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_469.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)