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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Hand controlirte. Am Schlusse schienen die einfallenden Trommeln und Becken die frommen Brüder zu noch größerer Ausdauer anzuspornen, obgleich an keinem auch nur die geringste Spur von Anstrengung und Erschöpfung bemerkbar wurde. Ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren entwickelte eine Muskelkraft, welche uns in Erstaunen setzte; nicht um einen Zoll schien während der fast einstündigen Dauer der Ceremonie einer der ausgestreckten Arme zu sinken, nicht eine Muskel seines Antlitzes, welches pures Entzücken ausdrückte, änderte sich während der ganzen Zeit. Vom medicinischen Standpunkte aus erklärte ein uns begleitender Arzt die ganze Production als unbegreiflich. Da kein Eintrittsgeld dafür genommen wird, sondern die ganze Ceremonie rein kirchlich ist, so muß jeder Verdacht von Betrug und Eigennutz ausgeschlossen bleiben.

Mit den leiser werdenden, wie hinsterbenden Tönen des begleitenden Gesanges hört der Tanz auf, noch ein mit tiefen Ehrfurchtsbezeigungen gegen ihr Oberhaupt begleiteter Rundgang, dann nimmt jeder Derwisch ruhig und, wie es scheint, nicht mehr erhitzt, als andere Menschenkinder, seinen Mantel und entfernt sich mit den Zusehern, die aus Türken, Europäern, Negern und Arabern bestehen.

Nach dem, was wir hier gesehen hatten, mußte unser Wunsch, auch die Secte der „heulenden Derwische“ zu Gesicht zu bekommen, nur noch reger werden. Man hatte uns gesagt, daß die Leistungen dieser letzteren noch staunenerregender, daß sie aber zugleich auch grauenvoll seien. Aber wo sie finden?

„Jeden Freitag,“ heißt es in einem bekannten Reisehandbuch über Aegypten, „produciren sich die heulenden Derwische, und jeder Eseljunge in Kairo kennt den Weg in ihr Kloster.“ Diese Behauptung erinnert mich stark an die alte Anekdote, wie ein Dienstmann in Wien in die Sperlgasse Nr. 11, dritten Stock, rechts, gesandt wird, um einen Uhrmacher Jonas aufzusuchen. Nach mehreren Stunden kommt er zurück und versichert seine Auftraggeber, welch ungeheure Mühe es ihm gemacht habe, die richtige Adresse zu finden. Erstens wohne der Mann nicht in der Sperlgasse, sondern in Lerchenfeld, nicht in Nr. 11, sondern 318, nicht im dritten Stock, sondern ebener Erde, nicht rechts, sondern links, auch heiße er nicht Jonas, sondern Schmidt, und sei kein Uhrmacher, sondern eine Hebamme. Auch die heulenden Derwische produciren sich nicht jeden Freitag, sondern nur manchmal an Donnerstagen, während des ganzen Ramadans zum Beispiel gar nicht; sie haben kein Kloster, sondern einen durch ein hölzernes Gitter abgesteckten Gebetraum in einem alten Gartenhofe, und diesen kennt nicht jeder, sondern gar kein Eseljunge in ganz Kairo. Das erwähnte Reisehandbuch verwechselt ganz einfach den Uhrmacher Jonas mit der Hebamme Schmidt, die heulenden Derwische mit den tanzenden, und dies ist einer von den zahllosen Irrthümern und Unrichtigkeiten, von welchen dies für die Gegenwart offenbar veraltete Buch wimmelt.

Wochenlang ritten wir unter Anführung sonst tüchtiger Dragomans kreuz und quer durch Kairo, ohne daß uns irgend Jemand, selbst von den Bewohnern der nächsten Umgegend, sagen konnte, wo eigentlich die „Heuler“ ihren Sitz hatten. Die tanzenden Derwische weiß jeder Führer zu finden, die Collegen derselben blieben für uns trotz aller Mühe versteckt, bis uns ein Zufall auf die rechte Spur leitete.

Wir betraten einen mit Palmen und Platanen bepflanzten gartenähnlichen Hofraum, der von alten römischen Säulen umschlossen war.

Den Hintergrund nahm eine mit weißen und rothen breiten Streifen bemalte Wand ein, deren Mitte in Nischenform vertieft und durch ein Holzgitter von den wenigen europäischen Zuschauern abgeschlossen war. Der Fußboden ist von feinen Matten bedeckt, eine einfache Ampel hängt in der Mitte. Die Wand ist theilweise beschrieben mit Koransprüchen in arabischen Lettern.

Eine Art Vorstand kniete in der Gebetsnische, umgeben von einer Anzahl – ungefähr einem Dutzend – auf den Fersen hockender Gläubiger, die in kurzem monotonen Rhythmus einförmige Gebete herabsangen.

Mit der Artigkeit, welche den Orientalen so sehr zu seinem Vortheil auszeichnet, brachte man uns Kaffee und Stühle, und ein stattlicher Mann mit langem Haar und Bart und charakteristischen klugen Gesichtszügen kam zu uns heran. Es war der Scheikh der heulenden Derwische, und wir hatten keine Ahnung, welche Hauptrolle derselbe bald in dem unheimlichen Drama spielen werde, das sich in Kurzem vor unseren Augen abspielen sollte. Er zeigte uns sein und seines Sohnes, eines kräftigen, etwa zehnjährigen Knaben, photographische Portraits, von dem genialen „Schöfft“ vortrefflich aufgenommen. Während wir durch unsern Begleiter, den gelehrten und liebenswürdigen Dr. v. Lorent aus Mannheim, einen berühmten und der arabischen Sprache vollkommen mächtigen Orientreisenden, eine leichte Unterhaltung mit dem Oberhaupt der Derwische angeknüpft hatten, war der Gesang der ersten Abtheilung zu Ende, und eine neue Serie von Darstellern betrat die Scene. Es waren besser gekleidete Männer, unter diesen auch vier Knaben im Alter zwischen zehn bis zwölf Jahren. Im langsamen Tone begann der Scheikh, der in die Gebetnische trat, nachdem sich Alle tief und ehrfurchtsvoll vor ihm verneigt hatten, die Worte: „lá iláha illa ’llah“ (es giebt keinen Gott, außer Gott). Dieser Satz wird von Allen hundert- und hundertmal wiederholt in immer schnellerem Tempo, ähnlich den jüdischen Religionsübungen. Der Druck des Tones liegt gleichmäßig und scharf ausgestoßen auf der Silbe, welche den Buchstaben á enthält, die folgende wird lang gedehnt gezogen. Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß die Derwische nicht wie die früheren Sänger sitzen, sondern fortwährend stehen. Immer rascher wird das Tempo, immer kreischender, höher, vibrirender tönt ein Sologesang dazwischen, einzelne wilde Ausrufe, wie „Huhu“, „Ah“ tönen dazwischen, so daß zuletzt der ganze Gesang der Menge einem gellenden Schmerzensschrei gleicht, inmitten desselben stürzen plötzlich Alle und zu gleicher Zeit auf den Boden, küssen denselben, und der zweite Theil der Ceremonie ist zu Ende.

Während wir noch unsere Verwunderung über die unglaubliche Ausdauer der Leute aussprachen, dachten wir Alle nicht, daß alles dieses nur ein kurzes harmloses Vorspiel zur letzten Abtheilung bilden würde. Es ist mir nicht möglich gewesen, über den Grund und das Motiv dieser freiwilligen Marter richtige Auskunft zu erhalten, da der Orientale bekanntlich in Religionssachen sehr zurückhaltend ist; da aber die Leute diese wöchentliche unaussprechliche Tortur freiwillig auf sich nehmen und keinerlei Bezahlung für diese Production verlangen, noch erhalten, so gehört ein unglaublicher Grad von religiösem Fanatismus dazu, um diese Qual auf sich zu nehmen.[1]

Die Sänger, denen man trotz der eben gehabten gewaltigen Anstrengung weder Müdigkeit, noch Erschöpfung ansieht, entledigen sich der Kopfbedeckungen und Ueberkleider, erstere theils in einer Art gestickter Mützen, wie sie einst die venetianischen Dogen trugen, theils in Turbans bestehend, und eine lange Mähne fliegender Haare wallt über die Achsel herab. Eine Flöte tönt in hohen winselnden Weisen zu den wilden Schlägen tellerartiger runder Handtrommeln und großer Tamburins. Eine Melodie, einförmig, aber wie durch einschneidende Jammertöne hervorgerufen, schrillt durch den Saal. Der Sänger verzieht dabei das Gesicht, so tief schmerzlich, so qualvoll, als ob alle Leiden der gesammten Menschheit über sein Haupt ausgeschüttet wären. Die Menge stößt ein Geheul aus, so unnatürlich, so über alle Beschreibung grauenhaft, so ganz außer allem Bereiche menschlicher Töne liegend, daß ich sie nur mit dem Gebrüll wilder Thiere, mit dem athemlosen Schnaufen der Locomotive vergleichen kann. Wie ich mein Gedächtniß auch anstrenge, ich finde keinen passenderen Vergleich. „Hih – hih – hih! huh – huh – huh!“ tönt es zwischen den unarticulirten Lauten gereizter wilder Bestien, das nerventödtende Gekreisch einer großen Sägemühle, das Todesröcheln gepeinigter Menschenkinder in wahnsinnigem Gewirr durcheinander. Dabei fliegen die Körper, wie von unsichtbarer Macht geschleudert, außer alle Grenzen möglich scheinender Bewegung heraus, die wilden Mähnen fliegen wie nasse Schlangen, die verzerrten Fratzen berühren den Boden, der Oberkörper scheint, wie eine willenlose Maschine auf- und abgeschleudert, sich von den übrigen Gliedern trennen zu wollen; immer rasender, toller wird das Geheul, das Schleudern der Glieder, das Tönen der Trommeln, das schmerzliche Quiken der Flöte; mit schäumendem Munde, Wütenden gleich, taumeln die tollen Fanatiker einher wie sinnlos Betrunkene.

  1. Eben theilt mir Arakel-Bey, der geistreiche Neffe Nubar Pascha’s, einer der gründlichsten Kenner der Volkssitten in Aegypten, mit, daß die heulenden Derwische einer fanatischen, aber unter den Muslims keineswegs geachteten Religionssecte angehören.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_471.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)