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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Abwesenheit ereignet hatte. Mit athemloser Spannung lauschte er meinen Worten. Tiras war der Retter gewesen – und mit ihm unser wackerer Hausmann, der durstige Flickschuster, der sich heute Abend wieder so betrunken hatte, daß er das Zuschließen des Thorwegs vergessen. War dieser nicht offen, so hätte der Hund nicht in’s Haus gekonnt. Die Signora war indessen wieder sehr unwohl geworden, so daß wir unsere Wirthin wecken mußten, denn in das Zimmer, das sie mit ihrem Manne bewohnt, wollte sie um keinen Preis der Welt zurückkehren. Ich untersuchte dieses Zimmer. Es war leer, in Unordnung herumgeworfene Kleidungsstücke und andere Sachen verriethen die Hast, mit welcher der Elende die Flucht ergriffen hatte.

Indessen waren unsere Wirthsleute gekommen. Sie schlugen die Hände voll Verwunderung über den Bösewicht zusammen. Sie hielten es nicht für möglich, daß in einem anständigen Hause der guten Stadt Leipzig solche Geschichten sich ereignen konnten. Das Schrecklichste aber war dabei dem braven Wirth, daß der furchtbare Mensch, der Procop Makovetzky, die Rechnung der letzten drei Tage nicht bezahlt hatte.

Doch waren sie gutmüthig genug, die kranke junge Frau in ihr eigenes Wohnzimmer aufzunehmen und nach einem Arzt zu schicken. Die Signora hatte Fieber und phantasirte.

Wenige Tage der Ruhe genügten indessen sie wieder herzustellen. Sie schrieb während dieser Zeit eifrig und zeigte sich gefaßt und ergeben. Weder Georg noch ich hatten sie während dieser Tage gesehen, wir wollten nicht gleich die Erinnerung an jene Nacht in ihr auffrischen.

Als sie indessen wiederhergestellt war, bat sie selbst um unsern Besuch. Sie saß am Fenster, als wir eintraten, und sah hinaus auf den schneebedeckten Brühl, auf welchem sich die dunklen Gestalten der polnischen Juden in ihren langen, schwarzen Talaren in lebhaften Gruppen bewegten. Eine feine Blässe überflog, als sie uns sah, ihr blasses Gesicht. Sie reichte uns die Hand und dankte in tiefster Bewegung, daß sie durch uns von dem entsetzlichen Menschen befreit worden sei, an welchen sie ein trauriges Verhängniß gefesselt hätte.

„Sie haben mir das Leben gerettet, mehr als das Leben, denn das Dasein an seiner Seite war mir zur Höllenpein geworden. Hier in diesen Papieren werden Sie Aufschluß darüber finden, welche schreckliche Verkettung von Umständen mich in die Gewalt dieses Menschen brachte.“

Sie war bei diesen Worten auf’s Tiefste erschüttert. Georg, dessen Leidenschaft für die Unglückliche bei der Mittheilung, daß sie wirklich Makovetzky’s Gattin, sich in die herzlichste Theilnahme verwandelt hatte, versicherte ihr, daß er Alles, was in seinen Kräften stehe, thun würde, um ihr trauriges Loos zu mildern. Sie dankte mit einem unbeschreiblich sanften, traurigen Lächeln.

„Auf Wiedersehen … auf baldiges Wiedersehen!“ sagte Georg beim Abschied ihr die Hand drückend. Sie antwortete mit einem stummen, eigenthümlichen Blick.

Wir haben sie nie wiedergesehen. Am anderen Tag erfuhren wir von unseren Wirthsleuten, daß die Signora mit dem ersten Frühzug nach Dresden abgereist sei, noch tausend Grüße und Danksagungen für uns zurücklassend. Wir waren dadurch nicht überrascht. Nach dem, was wir in den Papieren der Signora gefunden, war uns diese Abreise ohne nochmaliges Wiedersehen sogar sehr erklärlich. Es würde nur eine schmerzliche, peinliche Scene geworden sein.

Ich will nach den Papieren der Signora kurz ihre traurige Geschichte hier erzählen.

Der Vater Laura’s von Petrino, so war ihr Familienname, war Italiener, hatte aber eine Deutsche, eine Wienerin, zur Frau. Er wohnte in Mailand, hatte sich mit seinem Sohne Giuseppe, dem einzigen Bruder Laura’s, an dem Aufstande gegen die österreichische Herrschaft betheiligt. Beide wurden gefangen und kriegsgerichtlich zum Tode durch Pulver und Blei verurtheilt. Dem Sohne gelang es, in der Nacht vor der Hinrichtung zu entfliehen, der Vater wurde in Mantua erschossen. Giuseppe war erst siebenzehn Jahre alt, ein Jüngling, schön wie Adonis, von einer fast mädchenhaften Zartheit in seiner äußern Erscheinung, aber muthig und tapfer wie Achilles. Die Militärbehörden schickten Steckbriefe hinter ihm her und setzten einen Preis von tausend Gulden auf seine Einlieferung aus, aber alle Nachforschungen waren vergeblich. Laura’s Mutter, Frau von Petrino, war indessen mit ihrer Tochter nach Wien gezogen, wo sie wohlhabende Verwandte hatte. Aber die Wiener Anverwandten, sogenannte Schwarz-Gelbe, wie man damals die österreichisch-habsburgisch Gesinnten nannte, wollten nichts von der Familie des Rebellen wissen. Frau von Petrino kam in sehr bedrängte Verhältnisse, da das wenige Geld, das sie mitgebracht, bald aufgezehrt, das Vermögen ihres Mannes aber confiscirt war. Trotz ihrer bedrängten Verhältnisse theilte sie das Wenige, was sie und ihre Tochter besaßen, mit einer Anverwandten, einem großen, schlanken blassen Mädchen, die in Folge eines unglücklichen Falles in ihrer Kindheit etwas hinkte. Sie war bald nach der Ankunft der Frau von Petrino in Wien angekommen, blaß, krank, zum Tode erschöpft, mit Mühe den Gefahren des Kriegs, der in Italien tobte und in welchem sie den Vater verloren, der ihre einzige Stütze gewesen, entronnen. So erzählte wenigstens Frau von Petrino den wenigen Leuten, mit denen sie in Berührung kam, da Isabella, so hieß die Anverwandte, sich wenig sehen ließ. Auch Procop Makovetzky, der sich damals in der österreichischen Hauptstadt aufhielt und in dem vordern Gebäude des Hauses wohnte, in dessen hinterstem Hof Frau von Petrino zwei kleine Zimmer inne hatte, erzählte sie es und sie wurde sehr verlegen, als Makovetzky die Bemerkung machte, es sei merkwürdig, daß ein Mädchen von so zarten Gesichtsformen wie Isabella einen so kräftigen Wuchs habe.

Um diese Zeit hielt Makovetzky, der vorgab, eine Stellung im Ministerium des Auswärtigen zu haben und ein Günstling des Fürsten Felix Schwarzenberg zu sein, um die Hand Laura’s an. Aber trotz ihrer bedrängten Lage und der ungewissen Zukunft wies das junge Mädchen die Hand des Mannes, gegen welchen sie einen unaussprechlichen Widerwillen hegte, zurück, und ihre Mutter stimmte ihr bei. Von da an stellte Makovetzky seine Besuche bei der Familie ein, er zog sogar wenige Tage später aus dem Hause fort, aber Laura und Isabella wollten bemerkt haben, daß er auf ihren Spaziergängen sie umschleiche. Diese Spaziergänge waren in der letzten Zeit häufiger geworden, während Isabella, wie schon erwähnt, früher sehr selten ausging. Aber der alte Doctor Giovanni Barletta, ein Italiener aus Modena, der jedoch schon seit fast vierzig Jahren in Wien lebte und welchen Frau von Petrino als Hausarzt angenommen, hatte verordnet, daß Isabella, bei welcher sich auch ein verdächtiger Husten eingestellt hatte, täglich ein paar Stunden frische Luft schöpfen solle.

Eines Tages, es war im März 1850, an einem wundervollen Frühlingstage, deren es in jenem Jahre, in welchem die Reaction in Europa ihre schönsten Triumphe feierte, so viele gab, kam Doctor Barletta athemlos, in höchster Aufregung zu Frau von Petrino. Sie hatten ein langes Zwiegespräch miteinander, an welchem später auch die von einem Spaziergange heimkehrenden Mädchen Isabella und Laura Theil nahmen. Als Doctor Barletta fortging, hatten Frau von Petrino und ihre Tochter rothgeweinte Augen, und nur Isabella saß, mit düsterem Blick, thränenlos und die Zähne fest auf die Unterlippe gepreßt, am Fenster und sah stumm hinunter auf den Hof. Selbst der alte Doctor wischte sich die Augen und schon unter der Thür kehrte er plötzlich noch einmal um, ging auf Isabella zu und umarmte und küßte sie, so zärtlich und innig, wie ein Liebhaber die Geliebte, oder auch wie ein Vater die Tochter.

Am Abend des andern Tages fuhr ein Fiaker an dem Hause vor, in welchem Frau von Petrino wohnte, und Laura stieg mit ihrer Verwandten Isabella ein. Frau von Petrino stand am Kutschenschlag und nahm noch einmal Abschied von den beiden Mädchen, die Reisekleider trugen und einen großen Mantelsack bei sich führten. Der Abschied von ihrer jungen Anverwandten schien ihr noch näher zu gehen, als der von der eigenen Tochter, denn immer und immer wieder umschlang sie Isabella’s Nacken und küßte sie. Endlich rollte der Fiaker fort. Todtenblaß, einer Ohnmacht nahe, wankte Frau von Petrino in’s Haus zurück, nachdem ihre Blicke dem Wagen, so lange sie denselben sehen konnte, gefolgt waren.

Der Fiaker rollte nach dem Nordbahnhof. Zu jener Zeit widmete die kaiserlich königliche Polizei den Bahnhöfen eine ganz besondere Aufmerksamkeit; es war nicht nur eine zahlreiche Polizeimannschaft, sondern auch Militärposten auf den Bahnhöfen. Man spionirte nach Hochverräthern, nach Rebellen gegen des Kaisers Majestät. Hing doch noch der Belagerungszustand drohend über der Donauhauptstadt. Und Welden, der kaiserlich königliche Feldzeugmeister

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_498.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2017)