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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


allerdings eine Art Heldenstück, einem Orte zu entrinnen, der auf das Sorgfältigste bewacht war; denn alle dreißig Schritte stand um denselben eine Schildwache, und eine Patrouille von den Husaren der „Landgräfin“ umritt allstündlich die Stadtmauern. Der Landgraf selbst aber hielt vorsichtige Späher, während die Zeit zu Pirmasenz in monotoner Soldatenspielerei zwischen Exercitien und Paraden verstrich. Da ward dem vielbeschäftigten Soldatenvater im Wasgau eines Tages ein Schreiben eingehändigt, folgenden Inhalts:

„Theuerster und liebster Gemahl! Meine letzte Stunde naht und ich danke Gott, daß er mich nach so vielem erlebten Glücke auch noch des Glückes werth hält, sie mir anzukündigen. Das Diesseits liegt hinter mir und ich ahne die Seligkeit des Jenseits. Ich wünsche Ihnen und meinen Kindern ein frohes Leben und das größte denkbare Glück: ein ruhiges seliges Ende. Meine Schatulle wird Ihnen Baron Riedesel einhändigen. Ich weiß, daß sie in eine Hand kommt, die sich so gern als die meinige den Dürftigen öffnet. Noch einen Wunsch habe ich, den letzten für diese Welt. Lassen Sie mich mitten in der großen Baumgruppe des englischen Gartens beerdigen. Man wird dort eine Grotte finden, die außer mir nur ihrem Erbauer bekannt ist. In ihr ist die Stelle, in der ich ruhen will und die ich größtentheils mit eigener Hand zugerichtet, mit einigen Steinen bezeichnet habe. Hier, wohin ich mich von dem Geräusche des Hofes flüchtete, wo sich meine Seele mit Gott unterhielt, dem ich bald von meinem Leben, das ich mit Ihnen, mein Gemahl, theilte, Rechenschaft geben soll; hier, wo ich so oft Sie und meine Kinder dem Herrn befahl, hier, wo der Allmächtige alle meine Wünsche erhörte, hier will ich auch ruhen. Mein teuerster Gemahl und Herr, ich erwarte Sie jenseits des Grabes in einer bessern Welt. Mein letzter Hauch gehört Ihnen.“

Die große Landgräfin war noch an demselben Tage, wo sie dieses Schreiben verfaßt, am 30. März 1774 zu Darmstadt in den Armen ihrer greisen Mutter gestorben, die ihr einige Wochen später nachfolgte. Auf die gewählte Ruhestätte im Park, welche man nicht ohne Schwierigkeit auffand, setzte Friedrich der Große der hochverehrten Freundin, „der Zierde und Bewunderung unseres Jahrhunderts“, wie er schrieb, jene Urne, auf welcher man noch heute seine Grabschrift liest: Femina sexu, ingenio vir! Von Geschlecht ein Weib, dem Geiste nach ein Mann! Goethe hat sie die große Landgräfin genannt. Als solche wird die hohe Frau, welche ihres Volkes wegen in die vernachlässigten Regentenpflichten ihres Mannes eintrat, im Gedächtnisse der Nachwelt bleiben.

Der Tod der herrlichen Fürstin, der großherzigen Gattin, muß den Landgrafen tief erschüttert haben. Denn obgleich er seine Soldatencolonie auch jetzt nicht verließ, suchte er von Pirmasenz aus sein fernes Stammland doch im Geiste der Verstorbenen fortzuregieren. Er kümmerte sich etwas mehr um seines hessischen Volkes Wohl und Wehe, gab seine Zustimmung zu jener Landescommission, deren einziger Zweck war: „dem guten fleißigen Untertanen jede Gattung seiner Arbeit fruchtbarer, seine Abgaben leichter, sein ganzes Leben froher, seinen Himmel blauer, ihn stolz auf sein Vaterland, zufrieden mit sich selbst und dankbar gegen seinen Fürsten zu machen.“ Ja er ließ jene höchst merkwürdige und freimüthige „Ankündigung an’s Vaterland“ erscheinen, welche, von Moser und dem nach Darmstadt berufenen Wandsbecker Boten entworfen, die gewissenlosen Beamten im Lande anklagt und warnt, von dem Bauer Vertrauen nur verlangt, wo das Gute geschehe, und ihm das Recht einräumt, von seinem Fürsten zu fordern, daß er ihm als Vater, nicht als Herr erscheine, worauf zuletzt das Volk aufgefordert wird, der Regierung freimüthig, wie ein Freund dem andern, seine Beschwerden kund zu geben.

Das Alles hatte jedoch keine Geltung für die Pirmasenzer, die unter dem höchsteigenen persönlichen Regime des „Herrn“ und unter den Schwingungen des Corporalstocks zwar oft in großen Aengsten saßen, sich jedoch eben nicht unglücklich fühlten. Ihr Staat war der Landgraf, sein Wille Gesetz, sein Gutdünken ihre Vorsehung. Ihm verdankte die Stadt ihre Existenz, der Bewohner seine Heimath, Wohnung, Nahrung, Hausstand, – denn er verheirathete ja auch seine Pirmasenzer nach seinem Geschmack, und ihretwegen war jetzt eigentlich das übrige Land da. So verlautete in Pirmasenz nichts von Beschwerden, wenn gleich Niemand ohne des „Herrn“ Erlaubniß auch nur den Fuß vor die Stadt setzen durfte. Anders dachten freilich die Hessen-Darmstädter, die sich in ihren unsichtbaren Landgrafen weniger zu finden vermochten. Zwar wollte man seinen guten Willen, Gerechtigkeitssinn, Fleiß und knappen Haushalt gelten lassen. Auch tröstete ein vergleichender Blick nach Hessen-Kassel, wo die Landeskinder zu Tausenden in die Fremde verkauft wurden, nach Kurpfalz, wo Beamtenfeilheit und Religionsdruck schwer auf dem Volke lastete, nach Zweibrücken, wo fürstliche Verschwendung im Schweiße der Untertanen badete, ein Feenschloß für vierzehn Millionen Gulden auf kahler Berghöhe hervorzauberte und in wüsten Treibjagden die ländliche Sittlichkeit untergrub. Dennoch empfand man schwer, daß der Landgraf auch nach dem Tode seiner Gemahlin nicht nach Darmstadt zurückkehrte, sich niemals dem Volke zeigte, die Regentenpflichten, wenn nicht ganz versäumte, so doch schrullenhaftem Soldatenspiel nachstellte und eigensinnig in dem entfernten Winkel einer entlegenen Enclave verharrte, wohin jährlich viermalhunderttausend Gulden ohne Wiederkehr, nutzlos für das Land und den Fürsten, spurlos in den Mäulern und Riesenleibern seiner gefräßigen, durstigen, tabakrauchenden Grenadiere verschwänden, da er auch an sich selbst sparte, um Alles an seine langen, uniformirten Tagediebe zu hängen.

Als man sich endlich darein ergab, den Landgrafen nicht wieder im Schlosse seiner Väter einziehen zu sehen, weil er eine geheimnißvolle Scheu vor demselben zeigte, erwartete man, daß er die Regierung an den Erbprinzen abtreten werde, welcher die Hoffnung des Landes war und seinem Vater vollen Spielraum in dessen Soldatencolonie gelassen haben würde. Vergeblich. Die Jahre gingen hin, die Zeit ward eine andere, der alte Fritz von Preußen starb, des Landgrafen Tochter ward preußische Königin, am Hofe seiner andern Tochter zu Weimar entwickelte sich die geistige Blüthe der Wiedergeburt Deutschlands. Aber der „alte Pirmasenzer“ lebte in seiner Weise ruhig fort und ließ exerciren, schießen und trommeln, daß die Wasgaufelsen wackelten.

Die große Welt ward freilich davon gar nichts inne oder kümmerte sich, weil von wichtigeren Interessen bewegt, nicht um das Treiben dahinten. Die literarische Bewegung der Geister, der Befreiungskampf der Nordamerikaner und die sturmverkündende politische Regung in Frankreich beschäftigte die Aufmerksamkeit. Der alte Dessauer und der Potsdamer Soldatenkönig waren verschollene Todte, ihr Ruhm antiquirt, ihr groteskes Thun und Soldatenspiel halb vergessene Curiositäten einer vergangenen Zeit, – und in Berlin liefen die Straßenjungen nach, wenn sich noch als antiquarische Rarität ein langer, hagerer, ausgetrockneter „Friedrich-Wilhelms-Officier“ sehen ließ. Da erschien bei Beginn der französischen Revolution in dem „Journal von und für Deutschland“ der Bericht eines Wanderers, dem es 1789 eingefallen war, jenen Winkel im Wasgau zu besuchen, wohin sonst selten der Zufall Jemanden geführt. Mit lächelndem Erstaunen las man die Schilderung eines förmlichen Soldatenlagers nach dem alten Potsdamer Muster, wo solches Wenige vermuthet hatten: auf den Vogesen an der Grenze Frankreichs.

„Hier bin ich wie in eine ganz neue Welt versetzt,“ beginnt der Berichterstatter sein Bild, „unter eine zahlreiche Colonie von Bürgern und Soldaten, die kein Reisender auf so ödem und undankbarem Boden suchen würde. Alles um mich her wimmelt von Uniformen, blinkt von Gewehren und tönt von kriegerischer Musik. Hier, wo ehemals nichts als Wald und Sandwüste war, wo ein einsames Jagdhaus blos zum Aufenthalte einiger Förster diente und die ganze Gegend umher von Niemandem als Räuberhorden besucht wurde, da legte der regierende Fürst von Hessen-Darmstadt mancherlei Wohnungen an, pflanzte Einwohner darein, versetzte den Kern seiner Kriegsvölker dahin und erkor sich den entlegenen Ort zu seinem Aufenthalt. Eine solche Wahl und einen solchen Entschluß kann nur eine ganz besondere Stimmung des Gemüths und eine ungewöhnliche Richtung des Charakters bei diesem Fürsten erregt haben, da er sich dadurch von seinem Lande ganz losriß, den Augen seiner Unterthanen gänzlich entzog und blos sich selbst, seinen wenigen Gesellschaften und seiner Lieblingsneigung, dem Soldatenwesen, lebt … Ohne dieses wäre Pirmasenz ein elender Ort, da kaum eine ordentliche Straße durch diesen Winkel des Wasgaus zieht. Der Landgraf wohnt in einem wohlgebauten Hause, das man weder Schloß noch Palais nennen kann und das, genau genommen, nur aus einem Geschoß besteht. Nahe bei

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_523.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)