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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

und Ilse hatte blau- und weißgestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, todtenstillen Haide, wenn die Sonne so darüber hinbrenne, und wenn der Mond schien, da fürchtete sie sich auch … In meinem fünften Jahre begann sie, mich zu unterrichten, da brachte Ilse ihre Arbeit herbei und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich Abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schooß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen rötheten sich, und die blonden Löckchen flogen und flatterten alterirt um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus- und eingegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: „Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau“, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin- und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.

Außerdem berührten mich die „himmlischen Erinnerungen“ meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Consequenz, wie die graublonden Löckchen, wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.

So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender. Sie stand auch wohl draußen im Baumhof, breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel:

„Eilende Wolken! Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“ –

und als ihr eines Tages ein Zahn ausfiel – er polterte bei Tische auf ihren Teller nieder und war zu meiner starren Verwunderung kein leibhaftiger, sondern ein eingesetzter Zahn – da wusch sie ihre Hände und packte schleunigst den Koffer.

„Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten!“ verabschiedete sie sich von Ilse, während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.

„Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Haide!“ Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimath. Heinz fuhr den Koffer bis in’s nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie in’s Freie entlassen hatte … Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! … So kam ich heim. Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sopha in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen, und die blau- und weißgestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen, um sie im Kasten aufzuheben.

„Ilse, abschneiden!“ sagte ich und hielt meine langen unbequemem Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Scheere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen in’s Feuer, das Jäckchen paradirte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.

Das glitt mir Alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten, wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Haide möglichst schnell im Rücken zu haben … Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber, daß die alte Frau mit dem rothen Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Haide gegangen war, um nie wieder zurückzukehren! Fräulein Streit meinte freilich immer, meine Großmutter sei tiefsinnig, und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen, und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte, so war es ebenso leise und allmählich geschehen wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint, so seien eben alle Großmütter. Wie kam es doch, daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge, die mir bisher als selbstverständlich gegolten halten? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die „seltsame alte Frau, die kein Geld im Hause litt“, hatte mich aufmerksam gemacht … Und war es nicht auch seltsam, daß meine Großmutter im Lauf der Jahre völlig verstummte? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf, wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß? … Die Eier, von denen sie hauptsächlich lebte, nahm sie eigenhändig aus den Nestern; sie molk die Kuh selbst, damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre, kein fremder Athem über den Trank hinstreiche, den sie genoß, und Fleisch und Brod rührte sie nie an … Nur im ersten Jahr hatte sie mich hie und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben, wer ich sei.

Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existirte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für mich, meinte Ilse – sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich Abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Capitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels confirmirt; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich knieete in der kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntniß ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.

So war ich aufgewachsen, wild und lustig, wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut auf über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache.

(Fortsetzung folgt.)




Leipzigs Juden-Ecke.
Erinnerung an das alte Leipzig.


Tausende von Leipziger Meß- und anderen Fremden unter unseren Zeitgenossen haben, wenn wir auf etwa zehn Jahre zurückgehen, das Bild vollständig vor Augen gehabt, welches unsere Illustration ihnen heute vorführt, sowohl hinsichtlich der hervorragendsten Gebäude, als der Staffage. Sie erinnern sich noch der „Heuwage“ an der Ecke des Brühls und der Ritterstraße, eines Baues aus dem Reformationszeitalter, der schon wegen seiner Holzconstruction zwischen den Steinbauten, die ihn von allen Seiten umgaben, auffiel. Weniger düster, ja sogar stattlich in seiner Ausdehnung, präsentirte sich der Heuwage

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_532.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)