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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


die Augen und die Seele stellt, weckt auch die Erinnerung an die Zeit des alten Regimes, wo es auch in Pirmasenz hieß: ‚L’etat c’est moi!‘ Das Wort fand unter Landgraf Ludwig dem Neunten hier seine volle Anwendung und weitere Erläuterungen in des ‚seligen Herrn‘ Schlag und Lieblingswort: ‚Coûte qui coûte, je le veux absolument!‘ (Koste es was es will, ich will es um jeden Preis haben!) Er war jedoch zu originell, als daß ihm eine nachgebetete welsche Phrase genügt hätte. Für seine lieben Pirmasenzer hatte er noch einen andern Kraft- und Kernspruch, mit welchem er seinem absolutistischen Princip Eingang verschaffte: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel!‘ Das war sein Refrain, das die letzte und höchste Instanz, das entschied über Glück und Unglück, Leben und Tod, Gut und Blut, Karren und Spießruthen und was sonst noch das arme Menschenherz bewegt, soweit in einer Militärcolonie des achtzehnten Jahrhunderts, wo der Mensch Soldat und der Soldat Puppe war, vom Herzen überhaupt die Rede sein konnte. Doch, meine Geschichte läßt gerade das Gegentheil vermuthen.

„Als nämlich meine liebe Großmutter sechszehn Frühlinge zählte – Pirmasenzer Frühlinge, denn von unsers Herrgotts Lenz außerhalb der Stadtmauer wußte man damals in der Residenz Ludwig’s des Neunten sehr wenig –, da schlug auch ihr Herz in Liebe und Sehnsucht, denn sie war die glückliche Braut eines Müllerssohnes aus der Nähe. Sie gab somit das Beispiel, daß auch in der Stadt der Grenadiere, wo der Schnurrbart und Zopf, wie der Werth des Menschen, nur nach Zoll und Linien bemessen wurde, sich doch die Natur nicht ganz unterdrücken lasse. Bald jedoch sollte sie in Schmerz und Leid inne werden, daß unter dem väterlichen Regiment des ‚Herrn‘ nur eine Liebe das Recht hatte, sich geltend zu machen: die zum Kalbfell. Seit der Confirmation des Mädchens war ein junger Soldat täglich in’s Haus gekommen, ohne jedoch irgend welche Absicht merken zu lassen. Er mochte wohl meinen, bei sechszehn Jahren habe die Sache noch keine Eile. Als aber der junge Müller erschien, da mochte der stumme militärische Anbeter denken, der Weizen sei nun reif zur Ernte, brauche aber deshalb nicht gerade in die Mühle zu kommen. Kurz, der Soldat ging zum General, der General ging zum ‚Herrn‘, und der ‚Herr‘ sprach: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel! Coûte qui coûte, je le veux absolument!

„Eines schönen Morgens werden dem Vater, der Mutter und der bräutlichen Tochter die Pässe abgefordert. Ohne einen solchen Paß durfte in Pirmasenz Niemand vor das Thor. An eine heimliche Entfernung war in der wohlbewachten Stadt für die besorgten Eltern und ihr Kind nicht zu denken, und was weiter kam, läßt sich vermuthen. Der ‚Herr‘ hielt nach wie vor seine Parade ab und schlug an den Fensterscheiben seine selbst componirten Märsche dazu – was wußte er von einem gebrochenen Herzen! Der General maß nach wie vor die regelrecht aufgesetzten gewichsten Schnurrbärte – in seinem Reglement stand auch nichts vom Herzen. Dem Elternhause meiner Großmutter gegenüber stand eine der großen Casernen, und was die bedrängte Braut da fast täglich sehen konnte, war ganz geeignet, einem jungen Mädchen von damals die romantischen Grillen zu vertreiben, wenn sie ja daran gedacht, mit Mutter und Vater der Soldatenstadt und dem Machtbereiche des Landgrafen zu entfliehen und sich der früheren Heimath zuzuwenden. Denn das Spießruthenlaufen, das im Casernenhofe stattfand, war ein Radicalmittel gegen das Heimweh.

„Wenn nämlich einen armen Burschen die Lust anwandelte, ohne Paß und Urlaub nach den Seinigen zu sehen, nachdem er vielleicht in seinem sechszehnten oder siebenzehnten Jahre aus der Scheuer und Bodenkammer seines Vaters in der Wetterau, am Vogelsberge oder sonst anderswo hergeholt worden war; wenn er dabei, um die Thorwache nicht zu belästigen, sich die undankbare Mühe gegeben hatte, einen Abzugsgraben zu benützen, und, ohne Weg und Steg zu kennen, einem gewinnsüchtigen Bauern in die Hände fiel, der des Fanggelds wegen den Armen einlieferte: dann verschrieb dem heimwehkranken armen Tropfe der Doctor ein Recept, dessen Apotheker der Profos war. Der hatte in seinem Laboratorium allzeitig einige Schock frische, eingeweichte Weidenruthen. Baumlange Riesen bildeten eine Allee, welche die schlechteste Perspective von der Welt zeigte. Zwischen den Bajonnetspitzen zweier Grenadiere mußte der arme Sträfling mit entblößtem Rücken so und so viel Mal hin- und herlaufen, und wehe dem, der etwa aus Mitleid seine Ruthe mit dem Daumen eingebogen oder nicht nach Vorschrift tüchtig ausgezogen hätte. Es konnte ihn leicht in dieselbe Gasse bringen. Wenn nun ein solcher Delinquent mit zerfleischtem Rücken in das Haus meiner Urgroßeltern herübergebracht, mit frisch ausgelassener Butter eingerieben wurde und dabei bis an die Decke sprang, geschah dies wohl schwerlich aus Vergnügen.

„Im Angesichte solcher Scenen mag es einem jungen Mädchen nicht zu verübeln gewesen sein, wenn sie ihren Eltern kein Wagniß zumuthete und sich dem allergnädigsten Willen ihres Landesvaters gehorsamst fügte. Die Ehe meiner lieben Großeltern scheint aber doch im Himmel geschlossen worden zu sein, denn sie war eine friedliche und glückliche. Der Respect der jungen Frau vor ihrem octroyirten Eheherrn war so groß, daß sie ihn im ersten Jahre ihrer Verbindung nur per ‚Er‘ anredete, was übrigens in der guten alten Zeit nichts Seltenes war.

„Aus dem Gesagten möchte vielleicht Mancher schließen, das Regiment des seligen Herrn sei ein sehr strenges gewesen. Dieser Schluß wäre ein falscher. Der selige Herr war in der That ein guter Herr, der Absolutismus und das Spießruthenlaufen an der Zeit. Seine Casse war allzeit in gutem Stande, seine Hofhaltung einfach, jedoch nicht knickerisch, so daß viele Familien aus seiner Küche lebten, und z. B. ihren guten Theil von den in Asche gebratenen Kartoffeln erhielten, deren er täglich zu verzehren gewohnt war. Den Künsten war er nicht abhold, und man findet noch manches treffliche Portrait aus seiner Zeit von dem Hofmaler Etienne. Freimüthige Aeußerungen, soldatische Geradheit liebte er und war kein Freund von Kriecherei, wenn er auch im Dienst pedantisch strengen Gehorsam forderte. Bei allem Eigensinn, bei aller aufbrausenden Heftigkeit und mißtrauischen Eifersucht auf seine Schöpfung und die Leistungen seiner Grenadiere, war er dennoch ein zwar schnurriger, aber herzensguter und gerechter alter Herr, ohne sonstige verderbliche Vorurtheile und Leidenschaften und von großer religiöser Toleranz, – so lange all diese guten Eigenschaften eben nicht mit seiner Schwäche für das Soldatenwesen in Widerstreit geriethen. Geschah dieses, so gab es keine weiteren Rücksichten für ihn, und er schritt über jedes Hinderniß eigenwillig hinweg in der Richtung, nach welcher alle seine Passionen gingen, wovon Manches zu erzählen wäre.

„Halbe Tage lang trieb er sich unermüdlich, mit wackelndem Zopfe und rasselnden Sporen auf dem Exercirplatze umher und war wie der Satan hinter den Evolutionen seiner Grenadiere her. Waren die Wachtparade und Exercitien zu Ende, so vergnügte er sich an seinen in Pappe ausgeschnitzten Soldaten, mit denen er auf einer großen Tafel im Schlosse Manöver anstellte. Dann ging es wohl noch im Exercirhaus los, wo gewöhnlich ein gewaltiges Rumoren stattfand. Das Treiben in demselben hätte beinahe einmal ein rasches und unerwartetes Ende gefunden. Einer der Heizer, welcher die vierundzwanzig Oefen des Exercirhauses mit zu besorgen hatte, fand das Eisen des Hängewerks unterm Dache so werthvoll, daß er einen großen Theil desselben entwendete und verkaufte. Der ganze kolossale Bau konnte so eines Tages dem Landgrafen und seinem Heere überm Kopfe zusammenfallen. Doch der Frevel wurde rechtzeitig entdeckt, der Kerl zum Strang verurtheilt. Nun war jedoch der Landgraf willens, ihn zu begnadigen. Da aber der Feldprediger seine Frage, ob ein Dieb nach der Schrift den Tod verdiene, kurzweg bejahte, so hieß es: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel, der Kerl muß hängen.‘“

So mein Pirmasenzer Gewährsmann. Weniger pietätvoll ergingen sich die Zeitgenossen, die dem Landgrafen aufbrachten, er drehe die Zöpfe, wickle, messe die Schnurrbärte und setze sie seinen Grenadieren selbst auf. Am meisten wunderte man sich über den wunderlichen Landgrafen, daß er sich sein ganzes Leben lang am schlechtesten Orte seines sonst so schönen Landes in der unaussprechlichen Atmosphäre seines Exercirhauses bei uniformirten Riesen wohlfühlte und zuletzt hatte denn diese Abneigung gegen die Hauptstadt des Landes, dieses Fernbleiben vom Schlosse seiner Ahnen, diese fortwährende Unsichtbarkeit wirklich etwas Mysteriöses, das die Phantasie reizte und den „alten Pirmasenzer“, trotz aller Beschwerden gegen ihn, zur volksthümlichen Figur machte, an welche sich Sagen und Märchen knüpften.

Schon Campe, der 1785 auf der Reise nach der Schweiz durch Darmstadt kam, hörte hier als Ursache der beklagenswerthen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_538.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)