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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 33.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


4.

Der Raum, der im niedersächsischen Hause sich zwischen der Tenne und den Wohnräumen hinzieht, und in welchem sich der Küchenherd befindet, heißt der Fleet. Auf dem Dierkhof erhob er sich noch nach uralter Sitte um einige Zoll über den lehmgestampften Boden der Tenne, sonst aber trennte ihn weder eine Wand, noch ein niedriger Bretterverschlag von der letzteren; man konnte somit von dieser Stelle aus die ganze Länge der Dreschdiele bis zum Hausthor und die sich zu beiden Seiten hinziehenden Viehstände bequem übersehen. Auf den Fleet mündeten ein Fenster und zwei Thüren der Wohnräume; er war mit kleinen Steinplatten sauber belegt, hatte, wie schon erwähnt, zu beiden Seiten Thüren, die in’s Freie führten, und war für mich der gemüthlichste Platz im ganzen Hause. Dort stand auch, nicht weit vom Herde, zur Sommerzeit der Eßtisch.

Als ich mit Ilse nach der Heimkehr von meiner stürmischen Abendwanderung, in diesen lauschigen Theil des Hauses trat, brannte schon die Lampe auf dem Tische, sie verlor sich in dem weiten, dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken. Durch das offene Hausthor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände; sie waren leer, auf dem Dierkhofe wurde nur so viel Oekonomie betrieben, als zu unserem eigenen Lebensbedarf nöthig. Nahe dem Fleet aber, mit der Stirn nach der Tenne zu, lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin – zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Guirlaude doch nicht wünschenswerth.

Ilse warf einen Blick auf das „feierlich geputzte“ Thier, dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter – ich durfte ja beileibe nicht wissen, daß sie über meinen „ewigen Unsinn“ gar auch noch lache.

Man hatte bereits ohne mich Abendtafel gehalten. An einem mächtigen Berg von Kartoffelschalen sah ich, wo Heinz gehaust hatte. Ilse schob, diesmal ohne Strafpredigt, die kalt gewordenen Kartoffeln von meinem Teller und legte mir dafür ein Paar heiße, weichgekochte Eier hin. Draußen im Baumhof hörte ich Heinz hantiren, und Ilse lief auch emsig auf und ab, sie hatte noch „alle Hände voll zu thun“. Das war nun freilich nicht der günstigste Moment; trotz alledem fuhr mir die Frage heraus, die mir bisher auf den Lippen geschwebt hatte:

„Ilse, wie heißt das Haus, wo mein Vater jetzt wohnt?“

Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen.

„Willst Du ihm schreiben?“ fragte sie überrascht stehen bleibend.

Ich lachte laut auf. „Ich? Einen Brief schreiben? Ach, Ilse, wie das lächerlich klingt! … Nein, nein, ich will nur wissen, wie die Leute heißen, bei denen mein Vater wohnt!“

„Muß es auf der Stelle sein?“

Ich wagte nicht „ja“ zu sagen; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht. Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin.

„Da, suche Dir die Adresse selber – ich hab’ sie nicht im Kopfe. Aber verliere mir nichts und stöbere nicht zu viel herum!“

Sie ging hinaus. Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck! … Da war das dünne, verschwindend kleine Päckchen, das die Briefe meines Vaters umschloß, sie trugen sammt und sonders Ilse’s Adresse, enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen, einen Gruß an die Großmutter und an mich, und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilse’s hie und da wiederkehrende Bitten, mich, der Schule wegen, vom Dierkhof hinwegzunehmen. Was an Schriftstücken von draußen herkam, ging durch Ilse’s Hand und wurde von ihr unter Seufzen und großen Mühen mit steifen Schriftzügen und lakonischer Kürze erledigt. Ich kümmerte mich nie darum; denn so flink ich im Lesen war, und so heißhungrig ich immer wieder die mir von Fräulein Streit massenhaft hinterlassenen Kinderbücher auch jetzt noch verschlang, so blutsauer wurde mir das Schreiben, und so verhaßt war es mir.

Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben, von welchem ich wußte, daß es ganz vor Kurzem eingelaufen war. „An Frau Räthin von Sassen. Hannover.“ stand in schlanker, graciöser Schrift auf dem Couvert; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt. Der Brief war an meine Großmutter – der einzige, der, so lange ich denken konnte, unter dieser Adresse in unser Haus gekommen war. Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab, da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift, und ich ging gleichgültig hinweg, ohne den Inhalt wissen zu wollen; die Welt außerhalb der Haide und was von ihr herüberkam, hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft. Heute war das plötzlich anders; das aufgebrochene

Siegel reizte mich, einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_545.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)