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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Tapeten waren uralt und von den Motten zerfressen, so daß der nervigen Gestalt Abrahams ein Auge und die hochgehobene, opferbereite Hand fehlten. … Wie eine Versammlung mürrisch schweigender Greise, in steifer Ordnung, reihten sich Stühle mit himmelhohen Lehnen und großblumigen, sammtenen Polsterbezügen an den Wänden hin. Ich habe erst späterhin diese aus den kostbarsten Hölzern geschnitzten, schwarzbraunen Säulenlehnen zu würdigen gelernt, bei ihrem ersten Erblicken jedoch stierten mich die aus Band- und Laubgewinden hervorlauschenden Thierköpfe und fabelhaften Gebilde, die auch an all den umherstehenden Spinden und Schreinen wiederkehrten, dräuend und sinnverwirrend an.

Die dunklen Farben und die tiefen Ecken allüberall sogen das Licht der zwei Lampen, die hell auf den Tischen brannten, gierig ein. Dunkel war der Teppich, auf dem meine Füße ruhten und der sich über den ganzen Boden hinbreitete, und fast schwarz der erdrückend niedrige Holzplafond. Nur das nackte Fleisch der Tapetenbilder, im Lauf der Zeit bis in’s Leichenhafte erblichen, leuchtete da und dort wie ein aufgesetzter Lichtpunkt, und ein einziger heller Gegenstand von mildem Glanze schwebte wie die versöhnende weiße Taube in das Düster herein – es war ein vielarmiger, mit weißen Wachskerzen besteckter Silberleuchter, der am Deckenbalken hing.

Es schien im Verlauf der bangen Stunde, die ich bereits am Bette verharrte, besser mit der Kranken zu werden. Sie sah sich mit weitoffenen Augen um, trank etwas frisches Wasser, und plötzlich kehrte ihr auch die Sprache zurück.

„Was ist mit mir?“ fragte sie langsam in gebrochenen, total veränderten Tönen.

Ilse bog sich, ohne zu antworten, über sie – ich glaube, der Jammer nahm ihr die Stimme – und strich ihr lind und liebkosend die Haare aus der Stirne.

„Meine alte Ilse!“ murmelte sie. Sie machte eine Anstrengung, sich zu erheben, es ging nicht – mit einem sonderbar starren, forschenden Blick streiften ihre Augen langsam an dem linken Arm nieder.

„Todt!“ seufzte sie und ließ den Kopf in das Kissen zurücksinken.

Der Ausruf flößte mir kaltes Entsetzen ein. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, das Polsterbänkchen rückte weiter und die Vorhänge rauschten.

„Wer ist noch im Zimmer?“ fragte meine Großmutter aufhorchend.

„Das Kind, gnädige Frau – Lenore,“ antwortete Ilse zögernd.

„Dem Wilibald sein Kind – ja wohl, ich kenne es – es springt mit den kleinen, nackten Füßen durch die Haide und singt drüben am Hügel – ich kann das Singen nicht hören, Ilse!“

Das wußte ich wohl; nie hatte auf dem Dierkhofe ein singender Laut über meine Lippen kommen dürfen – ach, und ich sang so gern! Mir war, als fliege meine Seele auf den Tönen, die mir die Brust weiteten, in die Ferne hinaus. Da sang ich denn in Heinzens Lehmhütte, daß die flaschengrünen Fensterlein zitterten, oder drüben auf dem Hügel, aber ich hatte nie gemeint, daß das die Großmutter auf dem Dierkhof hören könne.

Ich war aufgestanden und trat ihr zitternd um einen Schritt näher.

„Klein wie ihre Mutter,“ murmelte sie vor sich hin, „und hat die großen Augen und ein kaltes, enges Herz – ihr ist ja auch das Wasser über der Stirn ausgegossen worden.“

„Nein, Großmutter,“ sagte ich ruhig, „ich habe kein kaltes Herz!“

(Fortsetzung folgt.




Pariser Bilder und Geschichten.
Paris auf Rädern.
Fahrende Glückseligkeit eines Parisers. – Eigene Equipagen. – Halb-eigene Equipagen. – Herausbeißende Remisewagen. – Platzkutschen. – Omnibusse. – Studien im Omnibus. – Fuhrwerke der Kinder. – Leichenwagen.


Aeußere Nothwendigkeit und innere Neigung haben an dem wirbelnden Chaos, das von früh bis spät die Pariser Straßen durchrollt, einen gleich bedeutsamen Antheil. Einmal sind die Entfernungen innerhalb der städtischen Ringmauern so kolossal, daß der geflügelte Spruch „Zeit ist Geld!“ eine schnöde Unwahrheit sein müßte, wollte man seine geschäftlichen Besorgungen zu Fuße abmachen; und zweitens kennt der Franzose neben einem guten reichlichen Diner kein höheres Vergnügen, als in die Kissen eines eigenen oder gemietheten Landauers gelehnt über den Macadam gewiegt zu werden und, die Cigarre im Munde, auf das Gewühl der Fußgänger herabzuschauen, wie Zeus auf die mühselig ringenden Kämpfer im trojanischen Blachgefilde. Neidisch begafft der Ouvrier den behäbigen Bürger, der sich Sonntagnachmittags eine Ausfahrt in die Elyseischen Felder gestattet; und dieser erblickt hinwiederum in dem Besitz einer eigenen Equipage, der ihm zur Zeit noch versagt ist, das Kriterium der höchsten irdischen Glückseligkeit! Kurz, Paris ist eine wesentlich fahrende Stadt, und wenn wir hinzufügen, daß in normalen Verhältnissen allein auf dem Boulevard des Italiens täglich zwölftausend Wagen passiren, so wird sich der geneigte Leser von dem tollen sinnver wirrenden Treiben der französischen Metropole eine annähernde Vorstellung machen.

Betrachten wir die Fuhrwerke der Seinekönigin etwas näher. Ihre Mannigfaltigkeit ist ebenso überraschend wie ihre Zahl. Sie unterscheiden sich nach Form und Charakter nicht minder auffällig als nach der Natur ihrer Insassen. Ein genauer Kenner der Pariser Fuhrwerke und ihrer Geschichte würde auch ein genauer Kenner der Pariser Gesellschaft sein. Versuchen wir wenigstens, die Hauptmomente dieses interessanten culturhistorischen Vorwurfs herauszuheben.

Auf der höchsten Sprosse der socialen Leiter steht die eigene Equipage. Sie ist das ausschließliche Privilegium der Millionäre, denn sie verschlingt unglaubliche Summen. Ein Geldaristokrat vom reinsten Wasser hält sich mindestens vier Pferde, vier Wagen, zwei Lakaien, einen Kutscher und einen Stallburschen, – ein Luxus, der in Paris nicht unter zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Francs kostet. Es sind indeß keineswegs die gediegensten Familien, die in dieser Beziehung den eclatantesten Aufwand machen. Die wohlangelegten, seit langer Zeit vom Vater auf den Sohn vererbten Capitalien, die soliden, durch redlichen Fleiß und ehrliche Speculation erworbenen Besitzthümer, kurz das gesicherte, feste Vermögen beschränkt sich auf einen mäßigen Luxus. Aber die improvisirten Goldvögel, die Börsenspieler, die heute über schwindelerregende Summen verfügen und morgen vielleicht keinen Fünffrankenthaler in der Tasche haben, die extravaganten Prinzessinnen der Halbwelt, die sprüchwörtlichen „Russen“ mehr oder minder zweideutigen Charakters: das sind die Leute, die sich in prunkenden Kaleschen, flotten Tilburys und schnaubenden Andalusiern nicht genug thun können. Ein geübtes Auge unterscheidet daher denn auch auf den ersten Blick die Equipage des Faubourg St. Germain, wo die legitimistische Aristokratie ihre Wohnsitze aufgeschlagen hat, von dem Landauer der Chaussee d’Antin oder der Rue St. Lazare. Es ist, als präge sich der Charakter der Eigenthümer in jeder Achse, in jeder Vergoldung, in jedem Ledergurt, ja selbst in der Physiognomie der Kutscher und Bedienten aus. Der Wagenlenker des adligen Faubourgs hat etwas Steifes, Würdevolles, Altfränkisches; der Automedon der vornehmen Lorette blickt keck, selbstbewußt, herausfordernd in die Welt; von dem Bocke des Parvenüs grinst ein albern hochmüthiges Geckenantlitz. Die Legitimisten lieben es, ihre Kutscher und Lakaien zu pudern; die Lorette ahmt dies nach, jedoch in lächerlich übertriebener Weise; der Emporkömmling affectirt nicht selten die höchste Geschmacksverfeinerung und kleidet seine Bediensteten in das schwarze Costüm eines Salonherrn.

Eine zweite Classe der eleganten Fuhrwerke sind die voitures en location. Wenn man monatlich acht- bis zwölfhundert Franken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_550.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2020)