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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


interessante Damenbekanntschaften anzuknüpfen, und beispielsweise den hübschen, kleinen Putzmacherinnen, die zu den stereotypen Fahrgästen gehören, allerlei süße Dinge in’s Ohr zu flüstern … Wieder andere setzen sich auf die Impériale, rauchen eine Cigarre und mustern das Publicum auf den Trottoiren. Aber abgesehen von allen speciellen Beweggründen empfiehlt sich eine Omnibusfahrt dem nach Paris kommenden Fremden als ein vorzügliches Mittel, die Typen der verschiedenen Gesellschaftsclassen rasch und in erheiternder Weise kennen zu lernen. Es bietet sich da die Gelegenheit zu den amüsantesten Studien; selten wird man aussteigen, ohne einige humoristische Scenen erlebt zu haben.

Die Leute „von Welt“ halten die Benutzung der Omnibusse für ungentil, ohne indeß diesem Grundsatze strenge Treue zu bewahren. Trifft es sich, daß zwei solcher Privilegirten sich in einem Omnibus begegnen, so erfordert eine stille Uebereinkunft, sich gegenseitig vollständig zu ignoriren. Man erspart sich und Anderen dadurch eine peinliche Verlegenheit.

Im Uebrigen werden die Omnibusse von der besten Gesellschaft frequentirt. Nur auf der Impériale geht es etwas sehr pêle mêle zu, und man läuft Gefahr, neben einem Burschen zu sitzen, dessen offene und verborgene Eigenschaften uns auf’s Empfindlichste berühren. Im Inneren dagegen ist das Publicum gewählter. Zu den stereotypen Gästen des Intérieur gehören immer einige Putzmacherinnen, ein Priester, ein Schneider mit Paket, eine verschleierte Dame in Trauer nebst Amme und Kind, eine kleine Ouvrière aus dem Faubourg, eine corpulente Bürgerin in höchster Toilette, ein Künstler, ein Landmann, der den Conducteur zehn Mal fragt, wo er auszusteigen hat, ein kleines mageres Frauenzimmer in den Fünfzigen. Man wird schwerlich drei Touren zurücklegen, ohne diese sämmtlichen Figuren wenigstens einmal angetroffen zu haben.

Noch eine Eigenthümlichkeit des Intérieurs verdient erwähnt zu werden. Auf die beiden Plätze am Eingange postiren sich nicht selten Taschendiebe, zumal weibliche, die den Einsteigenden die Taschen visitiren und nach einem glücklichen Griffe so rasch als möglich verschwinden. Auch die häufig wiederkehrende „Kinderbewundrerin“, eine Dame in eleganter Toilette, die der ersten besten Mutter die zärtlichsten Artigkeiten über den „kleinen Engel“ auf ihrem Schoße sagt, gehört oft in die Katerie jener Galgenvögel. Während sie durch ihre Redensarten die Aufmerksamkeit der geschmeichelten Mama absorbirt, besorgt ein Mitverschworener den Diebstahl und verläßt nach gelungener That schleunigst den Schauplatz. Wagt dann die Bestohlene bei der Entdeckung ihres Mißgeschicks der „Kinderbewundrerin“ eine verdächtige Aeußerung in’s Gesicht zu schleudern, so ist diese auf einmal wie verwandelt, ruft im Tone höchster sittlicher Entrüstung: „Comment, Madame, vous osez …?“ und verspricht eine Injurienklage. Ich entsinne mich zweier Fälle, in denen die bestohlene Mutter obendrein noch eine empfindliche Geldbuße wegen „Verleumdung“ zu erlegen hatte.

Mit den Fahrmethoden des erwachsenen Paris sind wir nun so ziemlich zu Ende – wir müßten denn der zahlreichen Geschäftswagen aller Art gedenken, die indeß in erster Linie dem Transporte von Gegenständen, nicht dem von Personen dienstbar sind. Eine aufmerksame Durchmusterung dieser Kategorie von Fuhrwerken wäre der würdige Vorwurf eines eigenen Aufsatzes; für heute müssen wir aus inneren und äußeren Gründen auf ihre Betrachtung verzichten.

Dagegen wird man uns zum Schluß noch ein paar vervollständigende Worte über die Fuhrwerke der Kinder gestatten. Der Deutsche liebt die Gründlichkeit: unsere Skizze wäre unvollständig, machten wir die Transportmittel der jugendlichen Pariser nicht wenigstens namhaft.

Zunächst, im ersten Stadium der Kindheit, benutzt der Sprößling der Metropole das sogenannte Bonnenwägelchen, ein Korbgeflecht auf Rädern, das von der „bonne“, d. h. dem Kindermädchen geschoben, nicht aber gezogen wird. Ist das vierte Lebensjahr zurückgelegt, so erfreut sich der junge Pariser, nämlich wenn er von bemittelten Eltern stammt, entweder der eigenen Pony-Equipage, oder, was die Regel ist, des auf eine einzelne Fahrt gemietheten Ziegenbockwagens, wie deren verschiedene tagtäglich in den elysäischen Feldern und anderen besuchten Anlagen zu sehen sind. Ist der Knabe schulreif, so besteigt er allmorgendlich den Schulomnibus, der ihn nach dem „Collège“ bringt und späterhin von dort wieder nach Hause befördert. Der Schulomnibus dient ausschließlich den „Messieurs les Collégiens“; andere Fahrgäste werden unter keiner Bedingung aufgenommen.

Und nun giebt es noch einen Wagen, der Allen gemeinsam ist, gleichviel ob sie alt oder jung, arm oder reich, vornehm oder gering sind. Der Bettler, der nie eine Achse bestiegen hat, der stolze Vicomte, der allwöchentlich ein Pferd zu Schanden fuhr, der Besitzer glänzender Prachtequipagen und der bescheidene Droschkenmiether – sie Alle werden schließlich von dem Wagen, den ich meine, hinausbefördert an die Endstation, wo der Conducteur Tod sein gellendes „Tout le monde descend!“ ruft. Der Leichenwagen ist der eigentliche Omnibus par excellence. Achtzig Passagiere transportirt er täglich nach den drei großen Kirchhöfen im Süden, Norden und Osten der Stadt; die Correspondenz, die er verabreicht, lautet auf das Jenseits. Wohl dem, der sein ganzes Leben hindurch so gefahren ist, daß er der letzten Tour ohne Bangen und Beben entgegenschauen kann!

E.




Das Ergrauen des Haupthaares.
Vom Stabsarzt Dr. J. Pincus, Docent an der Universität zu Berlin.

Die allgemeine Beobachtung lehrt, daß in einer bestimmten Epoche des menschlichen Entwicklungsganges regelmäßig ein Ergrauen des Haupthaares eintritt. Bei ganz normalen Verhältnissen ist der Verlauf dieser Entwicklungsepoche ein solcher, daß dem Erbleichen des Haares eine Reihe anderer Greisenveränderungen des Gesammtkörpers vorausgeht; das Ergrauen ist dann naturgemäß und steht mit dem sonstigen Lebensgange des Menschen in Harmonie. Es empfindet auch ein Greis diese Veränderung seines Haares nicht als ein Uebel und die allgemeine Meinung betrachtet das graue Haar als ein ehrwürdiges.

Allein eine solche völlig normale Entwicklung ist selten.

In der Regel tritt gleichzeitig mit dem Erbleichen der Farbe eine andere, nicht als so ehrwürdig betrachtete Veränderung des Haares ein: dasselbe verliert an Länge und Dicke, und dieser Leidenszustand zeigt ebenso wie die in den früheren Aufsätzen erwähnten chronischen Haarkrankheiten einen fortschreitenden Charakter in zweifacher Weise: es verliert entweder gleichzeitig je ein Haar in allen Haarkreisen an seinen ursprünglichen Dimensionen, oder es tritt diese Verkürzung und Verdünnung bei allen Einsassen, aber nur in sehr wenigen Haarkreisen ein; im ersten Falle erfolgt eine gleichmäßige Verdünnung des gesammten Haarbodens, im zweiten entsteht eine kleine Tonsur. Zuweilen findet eine Mischung beider Processe statt.

Findet sich diese Erkrankung des Haarwuchses neben der Veränderung der Haarfarbe erst in sehr hohen Jahren, so darf sie gleich dem einfachen Ergrauen als ein unabweisbarer Entwicklungszustand angesehen werden; der Hochbetagte verlangt wegen der Veränderungen seines Haupthaares keine ärztliche Hülfe und sie könnte auch nicht geleistet werden. Tritt hingegen dieser Zustand schon im Anfange der fünfziger Jahre ein oder nimmt der Haarschwund rascher überhand als die Entfärbung, so liegt ein Leiden vor.

In früheren Epochen der Medicin hat man als unzweifelhaft feststehend angenommen: das Erbleichen des Haares im Greisenalter erfolge durch eine Veränderung an dem längst fertig gebildeten Haar; man betrachtete früher das Haar fast als etwas Feststehendes, Unwandelbares, etwa wie den Nagel; man dachte nicht an den stetigen Ausfall und den stetigen Ersatz; man kam beim Ergrauen gar nicht auf die Vermuthung, daß dieses ein neu sich bildendes Haar treffen könne, und man war nur darüber verschiedener Ansicht, ob dieser Erbleichungsproceß zuerst die Spitze oder zuerst den Wurzeltheil oder gar auf einmal das Haar in seiner ganzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_552.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)