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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 9. Aus den Aufzeichnungen einer Pflegerin. II.


Auf einem freien Platze voll großer Bäume in Ars sur Moselle stand das zum Lazareth eingerichtete Schulhaus, ein so schönes großes Gebäude, wie ich in einem deutschen Dorfe kein ähnliches gefunden. Deutsche Hülfe mangelte noch; man war genöthigt, von der Gemeinde bezahlte französische Wärter und Wärterinnen anzustellen, letztere zum großen Theil die Demoralisirtesten unter der demoralisirten Fabrikbevölkerung. Wie schlecht die Kranken, besonders die Deutschen, in solchen Händen gepflegt, welche schmutzigen Scenen vorgekommen, ist leicht begreiflich, ebenso wie die Freude des Doctors, endlich deutsche Pflegerinnen für seine Patienten zu erhalten. Jede von uns erhielt einen der vier Säle angewiesen. Der weibliche Doctor bat sich sofort die Schwerverwundeten und Amputirten aus und erhielt den Parterresaal des linken Flügels, wo sie alsbald begann, Wärter und Wärterinnen umherzujagen und sie mit allen möglichen Aufträgen in geziertem Französisch zu überschütten. Nie habe ich ein größeres Talent in Ausnutzung ihrer Umgebung gesehen als in diesem Frauenzimmer. Froh, auf einige Zeit von ihr befreit zu sein, folgten wir dem Stabsarzt in die übrigen Säle. Saal Vier in der Beletage des rechten Flügels ward mir zugewiesen. Vor allen Dingen mußten die beiden Wärterinnen entfernt werden, sollten die Kranken die ihnen nöthige Ruhe haben. Die Aeltere der Beiden, eine Person mit dreistem Wesen, falschem Chignon auf dem sorgfältig frisirten Haupte und zerrissenen Schuhen an den Füßen, wurde auf ihre Bitten einstweilen beibehalten, mußte indeß nach einigen Tagen in Folge obscöner Vorfälle entlassen werden. Die Jüngere, kaum sechszehn Jahre alt, indessen weit gemeiner und dreister noch als ihre Gefährtin, sprang bei unserer Ankunft laut auflachend mit nägelbeschlagenen Schuhen durch den Saal, daß die Dielen zitterten und die Schwerkranken aufstöhnten, als ginge jeder Tritt über ihren zerschossenen Körper. Sie mußte noch denselben Abend mit Strenge hinausgewiesen werden, da sie sich durchaus nicht gutwillig fügen wollte und einige übermüthige reconvalescente Franzosen ihre Partei ergriffen.

In den anderen Sälen mag es ähnlich gewesen sein; es blieben nur drei ältere Frauen zum Aufspülen und zum Aufwaschen der Säle zurück. Außerdem hatten acht französische Wärter die schmutzigen Arbeiten zu verrichten, je zwei in jedem Saale, Einer zum Tagesdienst, der Andere für die Nacht. Ein Lazarethgehülfe in jedem Flügel ging dem Arzte zur Hand und schaffte die Medicamente herbei. Bonner Studenten der Medicin, die sonst keine Beschäftigung gefunden, sollten uns beim Verbandanlegen hülfreiche Hand leisten; ich erinnere mich jedoch nicht, sie je zu diesem Zwecke in meinem Saale gesehen zu haben. Bald hörten ihre Besuche im Lazarethe auch auf. Der Stabsarzt liebte sie ohnehin nicht allzu zärtlich, und als sie sich weigerten, die Nachtwachen zu übernehmen, setzte er ihre Entfernung durch. Später erhielten die beiden oberen Säle zwei freiwillige Pfleger, die fleißig halfen, Saal Drei einen jungen Kaufmann aus Hof an der Saale, Saal Vier einen jungen Mann aus der Nähe von Bonn. In den unteren Sälen verbanden die Lazarethgehülfen. Der Stabsarzt und später ein ihm beigegebener Assistenzarzt hatten die Kranken täglich zwei Mal zu besuchen. Oberstabsarzt W. sprach einige Male die Woche vor, später größtentheils in Begleitung des Generalarztes, Geheimraths Dr. Busch, dessen gütiges Gesicht den Kranken Allen willkommen war, wennschon sein Erscheinen meistens die schrecklichsten Operationen nach sich zog.

Von den Verwundeten nahmen die beiden Deutschen in meinem Saale anfänglich, als die am schwersten Getroffenen, meine ganze Sorge in Anspruch. Der Eine, ein junger schöner Mann, bereits verheirathet und Vater von vier Kindern, lag unbeweglich mit zerschmettertem linken Unterschenkel in Gypsverband. Der 14. August hatte ihn auf’s Schmerzenslager geworfen, von dem er, wenn Alles gut ging, erst nach Monaten, vielleicht in Jahresfrist, erstehen konnte. Wohl kannte er die lange Zeit, die seine Heilung erheischte, aber keine Klage wurde laut. Stets freundlich und dankbar für die geringste Hülfe, konnte ihn nur der Gedanke an Frau und Kind, die sich daheim in Wesel um ihn grämten, traurig stimmen. Sein Name ist mir entfallen, die Nummer des Regiments, zu dem er gehörte, habe ich nie gewußt, aber die „liebe Gypsfigur“, wie wir ihn nannten, wird stets in meinem Gedächtnisse bleiben. Ebenso liebenswürdig war mein „guter Lipper“, eine prächtige Figur aus der Nähe von Detmold, dessen linker Unterschenkel, gleichfalls zerschmettert, leider keinen so guten Verlauf genommen hatte wie die Verwundung seines Nebenmannes. Furchtbar war der Anblick des bereits brandig gewordenen Beines und noch furchtbarer die Schmerzen, die der Arme litt. Zweimal vierundzwanzig Stunden hatte kein Schlaf seine Qualen gemildert, keine Speise ihn erquickt, ohne daß ein Schmerzenslaut über seine Lippen gegangen. Als ich ihn das erste Mal sah, versuchten seine vor Schmerz zuckenden Lippen mir zuzulächeln, während in seinen blauen Augen Thränen standen.

„In zwei Tagen wollen sie mir mein Bein abschneiden, liebe Schwester,“ sagte er traurig, „und so viel Schmerzen es mir auch verursacht, ich verliere es doch nicht gern. Auch werde ich nun meinen armen Vater nicht länger ernähren können; er ist schon alt und meine Schwestern sind Beide kränklich. Die eine hütet seit Jahren das Bett, die andere hat schon monatelang die Stube nicht verlassen können. Als Bierbrauer hatte ich in Lippe einen schönen Verdienst, aber das ist nun für immer vorüber; wer will einen Krüppel in seine Dienste nehmen?“

Ich tröstete ihn, so gut ich es vermochte, und bedauerte aufrichtig, einen so sanften Kranken verlieren zu müssen, denn alle neu Amputirten wurden, so lange es noch heiß war, in die unweit gelegene Markthalle gebracht, da der Geruch des eiternden Stumpfes in geschlossenen Räumen die Luft zu sehr verpestet hätte.

Als der Aermste zwei Tage später auf seine Bahre gehoben und durch den Saal getragen wurde, da war gewiß Niemand, der nicht tiefes Bedauern für den freundlichen blonden Deutschen gehabt, so sehr die Kranken auch gegen die Leiden ihrer Mitbrüder abgestumpft waren.

„Adieu, liebe Schwester! Meinen Dank für Ihre Güte! Mit Gottes Hülfe wird Alles gut vorübergehen; ich hoffe auch, daß die Aerzte mir mein Knie noch lassen werden. Glauben Sie nicht auch, daß ich nur den Unterschenkel verlieren werde?“

Ich wagte nicht Nein zu sagen, obgleich ich wußte, daß durch die Verzögerung der Amputation der Brand um sich gegriffen hatte und der Mann nur durch Verlust des ganzen Beines gerettet werden konnte. Wie sehr freute er sich aber, mich am Nachmittage neben seinem Lager in der Markthalle zu sehen!

„Es ist ganz gut abgelaufen,“ war die Antwort auf meine besorgten Fragen, „und ich habe lange keine so starken Schmerzen mehr als vor der Operation. Aber wie weit man mir mein Bein abgeschnitten, weiß ich nicht; nachzusehen ist mir verboten, und ich habe immer das Gefühl, als besäße ich noch das ganze Glied. Glauben Sie wohl, daß ich Schmerzen in der großen Zehe und in der Hacke verspüre, gerade so, als läge letztere zu fest auf – und doch habe ich weder Hacke noch Zehe dort,“ setzte er traurig hinzu. „Ich darf indessen nicht klagen, ich glaube, ich bin noch am besten dran von Allen, die hier liegen.“

Fast mußte ich ihm beipflichten, sah ich in die bleichen, schmerzverzogenen Züge, die uns umgaben. In dem großen Schuppen, an dessen Vorderwand ausgespannte Tücher die Kranken nothdürftig gegen Sonne und Regen schützen, liegen dreiundsechszig zum Tode verwundete Krieger in harten Betten, ja, selbst auf den schmalen Tischen, die in der Mitte des Raumes aneinandergereiht sind. Den Meisten hat der Tod bereits sein Siegel aufgedrückt, und der pestartige Geruch, den sie verbreiten, ist ein sicheres Zeichen, daß sie bald von ihren Leiden erlöst sein werden. Kein Wunder, daß der gute Lipper sich in das Lazareth der großen Schule sehnt; auch ich bin froh wieder dorthin zurückkehren zu können, habe ich doch in der kurzen Zeit meines Hierseins die armen Kranken bereits herzlich liebgewonnen und danke Gott, daß einstweilen unter ihnen kein Todescandidat ist.

Drüben im Saal Drei sieht es schlimmer aus. Hart an der Thür ruht still und bleich ein junger Mann, fast noch ein Knabe, mit feinen geistreichen Zügen und großen dunkeln Augen. Sohn eines angesehenen Pariser Advocaten, war er freiwillig mit ausgezogen, sein bedrohtes Vaterland zu retten und die verhaßten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_573.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)