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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Deutschen zu vernichten. Bei Gorze traf ihn die feindliche Kugel. Mit zerschossenem Haupt, aus welchem das Hirn hervorquoll, hatten die Preußen den Jüngling gefunden und nach Ars gebracht, wo er trotz der sorgfältigsten Pflege langsam dem Tode entgegenging. War sein Ende still und schmerzlos, so litt sein Camerad an der andern Seite des Saales desto furchtbarer. In die Seite geschossen, war der Kinnbackenkrampf hinzugetreten, ein Zustand so qualvoll, wie er kaum gedacht werden kann. Brüllend und um sich schlagend wälzte er sich auf seinem Lager umher, nicht im Stande Trank oder Speise zu sich zu nehmen, und unser einziger Wunsch war, nur seine Leiden bald geendigt zu sehen. Fünf Tage und Nächte dauerte seine Qual und schrecklich war sein Tod. Vierundzwanzig Stunden lang wehrte er sich verzweiflungsvoll, und als der französische Priester die Sterbegebete über ihn sprach, stöhnte er laut auf und heiße Thränen entstürzten seinen Augen. Wohl mochten ihn feste Bande an das Leben fesseln; das einzige Wort, welches seine vom Krampfe gefesselten Lippen zu bilden vermochte: „Marie!“ rief er in allen Tönen der Verzweiflung.

Einen grellen Gegensatz zu der geduldigen Ergebung und dem Heldenmuth, womit die Kranken unseres Lazareths meist ihre Leiden trugen, bildete ein Officier, an dessen Krankenlager ich acht Tage nach meiner Ankunft die Nachtwache übernommen. Ein Schuß durch die Schulter, der den Knochen zerschmettert und die Nerven zerrissen, hatte bei Mars la Tour seinem tapfern Vordringen ein Ziel gesetzt. Wie die meisten verwundeten Officiere der Privatpflege der Einwohner von Ars übergeben, lag er in einem Hause desselben Hofes, den wir bewohnten. Leider trug er nicht dazu bei, das Urtheil der Franzosen über die Eindringlinge milder zu stimmen. Nicht nur daß er mit seinen Hausleuten in beständigem Hader lebte, auch seinem treuen Burschen war er ein tyrannischer Herr und suchte selbst seinen Befehlen mit der blanken Waffe Nachdruck zu verschaffen. Die jungen Mediciner, die abwechselnd bei ihm die Wache übernommen, behandelte er wie seine Sclaven, und als er gar dem Einen dieser freiwilligen Pfleger eine Ohrfeige angeboten, weigerten sich sämmtliche Studenten, noch ferner seine Stube zu betreten. Auf sein Verlangen nach weiblicher Pflege mußte ich hinüber, und nachdem mein Tagewerk im Lazareth beendet und das frugale Abendessen eingenommen war, trat ich den sauern Gang an. Beim Eintritt in das verpestete Gemach, dessen Fenster nur selten geöffnet werden durften, ruhte der Kranke in Decken und Shawls eingehüllt in einem bequemen Fauteuil am Fußende des Bettes. Mein „guten Abend“ wurde nicht erwidert, mein Erscheinen überhaupt nicht beachtet, er hatte zu viel zu thun, seinen Burschen in Athem zu erhalten. Endlich wurde er es müde, den geduldigen Menschen zu quälen, und er rief nach der „barmherzigen Schwester“. Mit harter befehlender Stimme verlangte er einen neuen Verband um seine Schulter, aber kaum angelegt, riß er ihn wieder los und befahl in sein Bett gebracht zu werden. Es geschah mit Hülfe des Burschen, und dieser bat demüthig um Erlaubniß, zur Ruhe gehen zu dürfen. Nachdem der bis zum Umsinken Ermüdete eine halbe Stunde auf Antwort gewartet, wurde ihm die Erlaubniß, sich zu entfernen. Behaglich war es mir eben nicht, allein zu sein bei dem Manne mit den starren Augen und dem heftigen Wesen. Keine Secunde konnte er ruhen, warf die furchtbar beschmutzten übelriechenden Kissen umher, stieß die Decken zurück und sprang wieder auf, das an der Erde bereitete Lager aufzusuchen. Aber auch hier keine Ruhe, kein Schlaf. Bald waren die Polster zu weich, bald zu hart, bald zu hoch, bald zu niedrig gelegt; nein, er mußte abermals in’s Bett, um gleich darauf wieder aufzuspringen. So ging es die ganze Nacht hindurch; nur in sehr langen Zwischenräumen drückte ein fieberhafter Schlummer die starren Augen zu, und ich benutzte die wenigen Augenblicke der Ruhe, das Fenster zu öffnen und die kalte reine Nachtluft einzuathmen, da der schauderhafte Geruch im Gemach mich fast erstickte. Auch der arme Diener hatte keine Ruhe.

„Rufen Sie den Burschen!“ herrschte er wenigstens zehn Mal während der Nacht, und der Todtmüde, dessen Lager die nackte Erde in einer dunkeln feuchten Kammer war, erhob sich seufzend, des strengen Herrn Befehle entgegen zu nehmen.

Niemals begrüßte ich den Morgen freudiger als nach dieser Nachtwache. Nachdem ich mit anbrechendem Morgen das Gemach in Ordnung gebracht, das unsaubere Lager neu gedeckt und dem ungeduldigen Patienten das Frühstück gereicht hatte, eilte ich aufathmend hinüber in unser Quartier, wo ich mich gegen neun Uhr ganz erschöpft von der vierundzwanzigstündigen Arbeit auf’s Lager warf.

Als ich nach einigen Stunden der Ruhe in das Lazareth zurückkehrte, traf ich nur noch fünf von meinen Patienten an, alle Reconvalescenten waren plötzlich evacuirt worden. Außer der lieben „Gypsfigur“ theilten nur vier Franzosen das Gemach. Charakteristisch an allen unseren französischen Patienten war das Verlangen nach warmer Kopfbedeckung, selbst während der heißesten August- und Septembertage. Da es an Nachtmützen fehlte, so mußten große bunte Tücher dem Mangel abhelfen. Seltsam sahen sie aus, diese dunkeln bärtigen Gesichter mit dem bunten Kopfputz und dem weißen oder blauen Schleier, den man ihnen zum Schutz gegen die Unzahl der ekelhaften Fliegen gegeben.

Zwei von diesen Franzosen waren Männer, die weder lesen noch schreiben konnten, wie denn die größte Zahl meiner französischen Kranken nicht die geringste Schulbildung besaß. Eine Kugel hatte dem Einen das linke Fußgelenk zerschmettert, eine andere, als er bereits am Boden lag, den rechten Unterschenkel verwundet; ein außergewöhnlich heftiges Wundfieber schien seinem Leben ein Ziel zu setzen. Zwei Wochen kam keine Speise über seine Lippen.

Niemand war über diesen Mangel an Appetit froher als meine „Drücker“, Leute, die, ohne wirklich krank zu sein, sich aus einem Lazareth in’s andre drücken, um von den Kämpfen und Strapazen verschont zu bleiben. Natürlich leiden alle „Drücker“ angeblich an Rheumatismus, ein Uebel, dessen Nichtvorhandensein kein Arzt beweisen kann, selbst wenn er davon überzeugt ist, und natürlich haben die „Drücker“ einen immer regen Appetit, dem die Krankenkost keineswegs genügt. Alle Speisen, welche die Kranken unberührt bei Seite setzen, verfallen dem „Drücker“, alle übriggebliebenen Stücke Brod weiß er sich anzueignen. Ueberzeugt, daß meine beiden „Drücker“ nicht allzu heftig von ihren rheumatischen Schmerzen gequält würden, trotz der gebeugten Haltung und dem schleppenden Gange, der sich einstellte, so oft der Arzt hereintrat, konnte ich mich doch nicht entschließen, diese Ueberzeugung laut werden zu lassen; denn die beiden armen Schelme mit ihrer Angst vor feindlichen Kugeln und ihrer Sehnsucht nach Weib und Kind dauerten mich. Hatte doch der Aeltere, ein rheinischer Jäger, vier Kinderchen daheimgelassen, der Jüngere sich voll Schmerz von drei kleinen Krausköpfen losgerissen. Uebrigens waren meine „Drücker“ dankbar für die Schonung, die ihnen gewährt wurde, und halfen wo sie konnten, bald als Mundschenken bei den Verwundeten, bald beim Ordnen des Verbandzeuges – und eben heute bei den Vorbereitungen zum Empfang neuer Kranken, die bereits angesagt waren. Gegen Abend hielten die mit Stroh gefüllten Leiterwagen auf dem freien Platze vor dem Lazareth, freiwillige Krankenträger hoben die Stöhnenden herab und trugen sie in die von den Reconvalescenten geräumten Säle. Bald waren alle frischgedeckten Betten gefüllt.

Eben war ich mit der Waschoperation der Einzelnen beschäftigt, als mit den Worten: „Ach Gott, Schwester, kommen Sie doch mit in die kleine evangelische Schule!“ der getreue Eckart in den Saal stürzt. – Getreuer Eckart war der Spitzname eines freiwilligen Krankenpflegers aus Baiern, der, ohne im Lazareth eine bestimmte Anstellung zu haben, für alle Säle herbeischafft, was eben nöthig, sei es eine Badewanne, eine Scheuerfrau, Eis zu Umschlägen oder dergleichen. – „Gott, Schwester, welch ein Elend! Heute Morgen hat man siebzehn Verwundete in die kleine Schule gebracht, auf etwas Stroh gelegt und dort vergessen. Sie liegen dort halbverschmachtet, wir müssen hin und Hülfe schaffen!“

„Aber lieber Eckart, meine armen Kranken sind seit gestern nicht gewaschen und zudem ist es Zeit zum Verbinden, ich kann wirklich nicht abkommen.“

„Sie müssen, Schwester, Sie müssen, wir können die Armen bis morgen nicht ohne Hülfe liegen lassen.“

Ich gebe zuletzt seinem Drängen nach und folge ihm in die am andern Ende des Fleckens gelegene evangelische Schule. Welches Elend in diesem durch eine niedrige Holzwand in zwei Theile geschiedene Raume! Im vordersten liegen sie dicht beisammen in ihren staubigen mit Schmutz und Blut bedeckten Uniformen, die mühsam über die zerschossenen Glieder gezwängt sind. Hier lehnt Einer halb aufrecht an der Holzbekleidung; die starren Augen und schweren Athemzüge lassen errathen, daß seine Brust durchbohrt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_574.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)