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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 35.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Ich steckte die Briefreste in meine Tasche und ging hinein auf den Fleet. Eben rollte die Chaise aus dem Gatterthor und bog, bedenklich schwankend, in den nach links führenden schauderhaften Haideweg ein, und von der entgegengesetzten Seite her kam Hainz auf den Dierkhof zugetrabt. In diesem Augenblick erst fiel es mir auf, daß er ja stundenlang verschwunden gewesen war. Ich trat neben Ilse, die den Doctor bis an das Hausthor begleitet hatte und auf der Schwelle stehen geblieben war. … Es wollte mir scheinen, als käme Freund Heinz sehr unsicher daher; er machte sich erst noch in völlig unnützer Weise mit dem Gatter zu schaffen, ehe er es unternahm, auf uns zuzuschreiten – das wurde ihm offenbar blutsauer. Beim Anblick unserer verweinten Gesichter blieb er verwirrt stehen.

„Nu, was hat er denn gemeint?“ fragte er verlegen stockend, indem er mit dem Daumen über die Schulter zurück nach dem wegfahrenden Doctor zeigte.

„Mein Gott, Heinz, Du weißt es nicht?“ rief ich, aber Ilse unterbrach mich mit barscher Stimme.

„Wo warst Du?“ fragte sie kurz und bündig den Bruder.

„Bei mir zu Hause,“ antwortete er trotzig.

Heinz trotzig! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht; aber da stand er trotz alledem, der ewig Nachdenkende, und schöpfte offenbar Muth aus seinem eigenen widersetzlichen Ton, denn nun verstieg er sich auch noch zu der unglaublichen Kühnheit, Ilse’s feindlich scharfen Blick zu pariren.

„So – was war denn Nachts um Eins so nöthig bei Dir zu Hause? – Hast wohl Deinen Vogel füttern müssen!“ sagte sie schneidend.

Er sah ängstlich und unsicher auf. „O je – Nachts um Eins den Vogel füttern – wie werd’ ich denn so dumm sein! … Zwischen meine vier Wände hab’ ich mich gesetzt,“ platzte er heraus, „die hat mein Vater mit seinen ehrlichen Händen gebaut, und ein frommer Spruch steht über der Thür. … Wie werd’ ich denn auf dem Dierkhof bleiben, wenn eine Judenseele geradewegs in die Hölle fährt! … Ilse, wenn das mein Vater wüßte, daß Du bei einer Judenfrau gedient hast!“ –

„Heinz, wenn das mein Vater wüßte, daß Du bei einem Christen gedient hast, wo Du halb verhungert und erfroren bist, und der Dir alle Tage mit Ohrfeigen und Stockprügeln gedroht hat!“ parodirte sie ihn zornig. „Das ist mir ja eine ganz neue Weisheit, die Du da auskramst, und die hast Du von da drüben!“ Sie zeigte nach der Richtung eines großen Dorfes hinter dem Walde, wo Heinz in früheren Zeiten als Knecht gedient hatte.

„Ja hast Recht, von dort her hab’ ich’s!“ versetzte er ebenso trotzig wie vorher und nickte verstockt mit steifem Nacken. „Die Juden sind verflucht bis in alle Ewigkeit, weil sie den Heiland gekreuzigt haben. Mein Herr hat’s gesagt, und das war ein Reicher und ein Hofbesitzer, und der Pfarrer hat’s von der Kanzel gepredigt, und der muß es noch besser wissen – dafür war er der Pfarrer!“

Ilse sah dem Sprecher scharf in’s Auge. „Jetzt paß auf!“ setzte sie kurz und resolut hinzu und trat ihm mit aufgehobenem Zeigefinger so nahe, daß er ängstlich zurückwich. „Es ist ein für allemal nicht wahr, daß der Heiland von unserm Herrgott bis in alle Ewigkeit gerächt sein will! Wenn er das zuließe, nachher wär’s aber auch aus und vorbei mit meinem Glauben, denn er hat uns geboten ‚Segnet, die euch fluchen,‘ und thät’s selber nicht! … Wenn ich Christi Leidensgeschichte lese, da hab’ ich freilich allemal einen Heidenzorn auf die Juden, aber, wohlgemerkt, Bruder Heinz, nur auf die Juden, die dazumal gelebt haben. … Wie werd’ ich denn so ein Unmensch sein und meinen Zorn an Leuten auslassen, die bis auf den heutigen Tag als unschuldige Kinder auf die Welt kommen und von ihren Eltern in der alten Lehre aufgezogen werden! … He, Musje Heinz, wie gefiele Dir denn das, wenn irgend ein Mensch mir etwas zu Leide thäte, und ich wollte seine Kinder dafür schlagen?“

„Das ist lauter Studirtes!“ sagte Heinz kleinlaut, „das hast Du von der alten Frau gelernt –“

„Das hab’ ich nicht gelernt, wie die Bibelsprüche in der Schule; das hat mir mein Gewissen und,“ sie deutete auf ihre Stirn, „der gesunde Menschenverstand gesagt. … Gesprochen habe ich freilich im Anfang viel mit meiner armen Frau, und es hat ein Wort das andere gegeben, und ich hab’ sie manchmal beruhigt, wenn ‚die Leute im schwarzen Rock‘ Unheil angerichtet hatten. … Die Juden haben den Heiland einmal gekreuzigt; aber Solche, wie der Herr Pfarrer dort drüben,“ sie zeigte abermals nach dem Dorfe hinter dem Walde, „die kreuzigen ihn alle Tage – Feuer und Schwert und Verfluchen und böse Worte, die machen das Reich Christi gar nicht fein, und ist es den Leuten nicht zu verdenken, wenn sie nicht hinein wollen! … Da hast

Du meine Meinung, und nun sage ich noch zu Dir selber: Pfui, schäme Dich in Dein Herz hinein, Du undankbarer Mensch! Hast

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_577.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)