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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

die ich selbstverständlich keinen Namen wußte, damals angesehen, weiß ich auch noch. Sie standen und lagen noch durcheinander und harrten der ordnenden Hand, das sah man. Aus Kisten, zwischen Heu und Stroh hervor, leuchtete Marmor; pompejanische Bronzen lagen auf den Tischen und antike Terracotten – halbzerbrochene Thonornamente mit Farbenspuren, die ich keines Blickes würdigte – auf dem Fußboden. Es war überhaupt des Zerbrochenen und Zerbröckelnden viel. – über eine geschlossene Kiste hingestreckt lag sogar eine weibliche Gestalt ohne Hände und Füße – was wußte ich von einem Torso!

„Sollte man denn meinen, daß es menschenmöglich ist!“ murmelte Ilse indignirt, fast grimmig. „In solchem zerbrochenen Kram steckt beinahe das halbe Jakobsohn’sche Vermögen!“

Das war auch mir unbegreiflich; aber ich blieb doch plötzlich gefesselt stehen, und unbewußt dämmerte die Ahnung von den Wundern und der überwältigenden Macht der Kunst in mir auf. An einen Baumstamm zurückgelehnt lag ein Knabe; den linken Arm gehoben um einen abgebrochenen Schößling des Stammes schlingend zeigten seine Glieder das weiche, ungezwungene Sichgehenlassen im beginnenden süßen Schlaf. Ich sah einen Augenblick unbeweglich in das schöne Gesicht; von den leichtgeöffneten Lippen säuselte der Athem, die halb zugesunkenen Lider bebten im Kampfe mit dem Schlummer, und in das frei schwebende, magere, aber muskulöse linke Händchen trat schwer das Blut und ließ die feinen Adern anschwellen unter der gelblichen Haut – darin pulsirte Leben, unheimliche Bewegung – ich fuhr zurück.

„Wirst Dich doch nicht fürchten, Kind!“ sagte Ilse. „Schauerlich genug ist’s freilich! … Aber nun sieh nur Einer Deinen Vater an! Ich glaube, er hat rein vergessen, daß wir da sind.“

In diesem Augenblick wurde drüben an die Thür geklopft; mein Vater hörte es nicht, er schrieb weiter. Auf ein abermaliges Klopfen rief Ilse kräftig „Herein!“ Genau so wie bei unserm Kommen fuhr er empor und starrte fassungslos auf den Lakai in reicher Livrée, der eingetreten war und sich dem Schreibtisch respectvoll näherte.

„Seine Hoheit der Herzog lassen herzlich grüßen und Herrn von Sassen auf heute Nachtmittag fünf Uhr zu einer Besprechung in das gelbe Zimmer bitten,“ sagte er mit einem tiefen Bückling.

„Ah so, so! – Stehe jederzeit zu Befehl!“ entgegnete mein Vater, indem er sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr.

Der Diener glitt lautlos wieder hinaus.

„Wir sind auch noch da, Herr Doctor!“ rief Ilse von der Schwelle aus, als er Miene machte, sich wieder zu setzen.

Ich mußte innerlich auflachen; aber ich hatte auch das Gefühl, als löse sich ein Druck von meiner Brust – ich fing an, meinen Vater zu verstehen. Er hatte seine Mutter und mich nicht vergessen aus Herzenskälte und Härte – er lebte nur in einer andern Welt. Seiner Liebe war ich sicher, wenn nicht die Ferne zwischen uns trat, wenn ich bei ihm blieb. … Jetzt galt es vor Allem, die ängstliche Scheu zu überwinden und nicht mehr vor der eigenen Stimme zurückzubeben.

„Vater,“ sagte ich so beherzt, wie nur je mein Vorbild Ilse, und deutete auf das schlafende Kind, während er, in fast lächerlicher Verlegenheit die Hände reibend, unsicheren Schrittes auf uns zu kam, „gelt, Du lachst mich nicht aus? Ich meine, das Kind da müßte aufwachen oder sein Händchen von dem Ast nehmen, das Blut steht ja d’rin.“

„Ich Dich auslachen, mein kleines Lorchen, weil Du sofort meine Perle, mein Kleinod herausgefunden hast?“ rief er sichtlich erfreut. Er streichelte den gelblichen Marmor noch zärtlicher als vorhin meine Wange. „Ja, sieh Dir’s nur recht an, Kind! Es ist eine herrliche That, es nähert sich der Meisterschaft Gottes selbst! … Es existirt nur einmal in der Welt, nur hier, hier! … Welch ein Fund! … Gott mag wissen, wie der Krämer dazu gekommen ist! … In diesem Hause stecken unermeßliche Schätze, und wo habe ich sie gefunden, wo gerade dieses unschätzbare Stück erst vorgestern an’s Tageslicht gezogen? Drunten im Souterrain, aus dunklen Ecken und Verschlägen, wo sie mindestens vierzig Jahre in Kisten verpackt und vergessen gestanden haben – ein nie zu entschuldigender Raub an der Wissenschaft! … O, diese Krämerseelen!“

Das Alles klang freilich nicht, als spräche er zu mir, dem Kind der Haide, das einen blöden Blick in das Reich der Kunst und Wissenschaft warf; allein seine Redeweise war mir doch viel verständlicher als die des Fremdwörter-Professors am Hügel, und der unerwartete Fund im „Krämerhause“ erhielt plötzlich denselben Reiz für mich wie die Geheimnisse des Hünenbetts.

Ilse sah mich von der Seite an, als wollte sie sagen: „So, jetzt fängt die auch noch an;“ aber sie verschluckte jede Nebenbemerkung und schritt wie immer schnurstracks auf ihr Ziel los. Sie zeigte auf ihre dickbestaubten Schuhe.

„Das Leder brennt mir an den Füßen,“ sagte sie, „und wenn ich ein Glas frisches Wasser hätte, da wär’ ich froh, Herr Doctor.“

Er lächelte, verschloß seinen Schreibtisch und führte uns hinab in das Erdgeschoß. Wir sahen vorübergehend durch eine offene Thür in ein Zimmer; da stand ein hübsches Stubenmädchen in weißer Latzschürze und wischte die Möbel ab.

„Fräulein Fliedner hat zwei Zimmer aufschließen lassen für das gnädige Fräulein von Sassen,“ sagte sie ehrerbietig zu meinem Vater – ich lachte ihr in’s Gesicht, das gnädige Fräulein von Sassen war erst gestern Morgen noch beim Abschiednehmen barfuß durch die Haide gelaufen. – „Der Herr ist zwar nach Dorotheenthal gefahren,“ fuhr sie fort, „und Fräulein Fliedner weiß nicht, wie er es einzurichten wünscht, wenn er zurückkommt; aber sie erlaubt sich vorläufig wenigstens für das Allernöthigste zu sorgen. Ich habe auch noch zwei Bestecke auflegen müssen und gleich zwei Portionen Essen mehr aus dem Hôtel mitgebracht.“

Mein Vater dankte ihr und öffnete uns sein sehr elegantes Wohnzimmer.

Soll ich erzählen, wie sich nun sofort das Wunder des erwachenden weiblichen Instinctes an dem wilden und verwilderten Kind vollzog? Jenes Wunder, das urplötzlich tausend zarte Fühlfäden aus der Mädchenseele springen läßt, sobald zärtliche Pflichten an sie herantreten! … Meine oft so „gräulich ungeschickt“ gescholtenen Hände schälten Kartoffeln und legten sie, wenn auch noch scheu und zaghaft, bei Tische auf den Teller des Vaters; ich sprang auf und zog die Jalousie vor das Fenster, als ein Sonnenstrahl um die Ecke kam und belästigend über seine Stirn glitt, und als er nach einer Stunde wieder in seine geliebte Bibliothek ging, da rief ich ihm nach, er möge nicht vergessen, daß er um fünf Uhr zum Herzog gehen müsse, und fragte an, ob ich vielleicht hinaufkommen und ihn erinnern dürfe.

Er wandte sich strahlenden Auges in der Thür um.

„Ich danke Ihnen, Ilse,“ rief er herüber. „Sie haben mir mit meinem Kinde die glückliche Zeit wiedergebracht, wo ich meine kleine Frau um mich hatte! … Lorchen, punkt fünf Uhr kommst Du hinauf! Ich bin manchmal ein klein wenig zerstreut, und es ist fataler Weise schon öfter vorgekommen, daß ich die Einladung rein vergessen habe.“

Er ging hinaus.

„Die Sache macht sich,“ sagte Ilse sehr zufrieden und streifte die Aermel ihrer Jacke über die Ellenbogen.




11.

Neben den Wohnräumen meines Vaters lag das Zimmer, welches Fräulein Fliedner mir vorläufig angewiesen, und an dieses stieß ein Schlafcabinet; es bildete die südwestliche Ecke des Hauses und hatte zwei Fenster, an denen schwere, wenn auch etwas verblichene, gelbe Damastgardinen hingen. Es enthielt ein Bett mit gelbseidener Steppdecke und schwellenden, eben in frischduftendes Leinen gesteckten Polstern, einen eleganten, gelb drapirten Toilettentisch, und an der tiefen Wand stand ein schmaler, auf Schnörkelfüßen ruhender und mit farbigen Hölzern ausgelegter Schrank.

„Das Bett ist unnütz,“ sagte Ilse, indem sie mit kraftvollen Armen unser in Sackleinen genähtes riesiges Frachtstück über die Schwelle zog. „Betten haben wir selber, und was für welche!“ Sie räumte die feinen Polster aus der Bettstelle, wobei sie mit verächtlicher Miene die feinen Dunen auf ihren Händen wog. „Aber ist das nicht ein Ungeschick!“ rief sie plötzlich und übersah mit in die Seite gestemmten Armen das kleine Zimmer. „So wie das Bett steht, liegst Du zur Hälfte unter dem zugigen Fenster, und da an der schönen, geschützten Wand steht der einfältige Schrank. He, faß ein wenig an, Kind – der muß fort!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_610.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)