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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 38.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Charlotte hatte uns jedenfalls durch den Hof gehen sehen. Sie kam die Treppe herab und begrüßte uns in der Hausflur. Ich konnte den Blick nicht von ihr wegwenden. Ein Spitzenhäubchen, klar und durchsichtig wie Spinnweben, hing nachlässig hingeworfen auf dem dunkelglänzenden Scheitel und legte sich verklärend um das schöne, wenn auch für ein junges, weibliches Gesicht etwas zu große und volle Oval der Wangen. In lockeren Falten floß ein helles Morgenkleid um die hoch aufgebaute Gestalt; nur ein schmaler Gürtel bezeichnete in weitgeschwungenen Contouren die durchaus nicht beengte, kräftig gebaute Taille.

„Will Haideprinzeßchen zu mir?“ fragte sie freundlich und ergriff ohne Weiteres meine Hand.

„Nachher auch zu Ihnen, Fräulein; aber erst müssen wir Fräulein Fliedner sprechen,“ sagte Ilse. Auch ihre Augen hingen wohlgefällig an der schönen Erscheinung – ja, das Große und Starke, davor hatte sie doch auch Respect; jedenfalls schmückte sie solch einen großen Kopf auf breiten Schultern auch stets mit ihrem eigenen starken Willen aus. … Ich selber kam mir neben den zwei stämmigen Frauengestalten so verkürzt, so grenzenlos unwichtig vor wie etwa eine zwischen zwei Eichen hingewehte Flaumfeder.

Charlotte schüttelte bei Ilse’s unverblümter Antwort lachend den Kopf und öffnete eine Thür. … Gott sei Dank, die Dame, die sich bei unserm Eintreten in einer der tiefen Fensternischen erhob, sie war wenigstens nicht so groß wie meine zwei Flügelmänner! Fräulein Fliedner sah in ihrem seidenen Kleide und weißen Häubchen und mit der feinen goldenen Uhrkette am Gürtel wieder ebenso appetitlich und zart, so vornehm aus wie gestern Morgen in der Hausflur und kam uns mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

Ich versank sofort neben Ilse in den dicken kattunüberzogenen Federkissen eines altfränkischen Sophas, während Charlotte sich in einen Lehnstuhl warf, den kläffenden Pinscher, der eben ein Stück aus meinem kostbaren Kleide zu reißen gesucht hatte, ohne Umstände am Genick auf ihren Schooß zerrte und ihm eine Strafpredigt hielt.

Ilse schilderte ohne lange Präliminarien in den knappesten Umrissen mein bisheriges Leben. Mein Kopf voll Unsinn, meine braunen Hände, die nicht stricken wollten, und der unbezähmbare Trieb, barfuß zu laufen, das waren die schauderhaften Grundzüge des Portraits, welche die zweijährige Bildungszeit verwischen sollte. … Ich saß lammstill dabei und sah in den gegenüberstehenden Glasschrank nach der großen häßlichen Porcellanfigur drinnen, die zu Ilse’s kerniger Rede mit ernsthaftem Gesicht ein schweigendes „Ja, ja, das muß anders werden!“ unermüdlich nickte. Dann zählte ich die endlosen Schlüsselreihen an der Wand – Himmel, diese schreckliche Menge großer und kleiner Schlüssel hatte Fräulein Fliedner auch in ihrem kleinen zierlichen Kopf und mußte wissen, was jeder verschloß! Mir wurde angst und bange vor dem Hause, das so unzähligemal hinter Schloß und Riegel lag – ach, mein lieber, lustiger Dierkhof mit seinem allereinzigen Hausschlüssel, der oft Nachts nicht einmal umgedreht wurde!

„Gern, herzlich gern will ich das kleine Fräulein von Sassen unter meine Flügel nehmen,“ sagte die alte Dame, als Ilse geendet und dabei den Blechkasten mit den Papieren auf den Tisch gestellt hatte. „Aber es muß dabei Manches, vorzüglich die Geldangelegenheit, in ernste Erwägung gezogen werden. Ich bin der unmaßgeblichen Meinung, daß Sie auch Herrn Claudius um seinen Rath bitten –“

„Um Gotteswillen nur heute nicht, liebe Fliedner!“ unterbrach sie Charlotte lebhaft. „Onkel Erich hat seine Arbeitsmarotte schlimmer als je – er hätte eben um ein Haar einen unglücklichen Handwerksburschen gepreßt, der war aber so schlau, zu entwischen. … Er ist im Stande und steckt das arme Ding da ’nüber in die Hinterstube und läßt es sein Lebenlang Todtenkränze aus getrockneten Blumen binden!“

Ich sah ihr starr vor Schrecken in’s Gesicht.

„Ja, ja, sehen Sie mich nur an, Kleine!“ sagte sie und betrachtete ihre großen, weißen, schöngepflegten Finger. „Für diese zehn unglücklichen Geschöpfe hier zittere ich beständig, daß sie eines schönen Tages confiscirt und in der Hinterstube angestellt werden!“

„Nun, Sie dürfen sich doch wahrhaftig nicht beklagen, Charlotte,“ meinte Fräulein Fliedner bei aller Milde doch ein wenig scharf.

Ilse machte ein bedenklich langes Gesicht. Bei aller scheinbar rücksichtslosen Strenge hatte sie mich doch viel zu lieb, als daß sie den Gedanken, mich unglücklich in der fremden Stadt zurückzulassen, ertragen hätte. … Ja, sie malte meine Unwissenheit und Ungeschicklichkeit in den schwärzesten Farben; aber sie mußte sich auch sagen, daß sie selbst viel Schuld trug – sie hatte nie die Kraft gefunden, mich zur Arbeit zu zwingen und meinen Hang zum ungebundenen Umherschweifen zu unterdrücken.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_625.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)