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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Nun das, sollte ich meinen, könnte doch ihr Vater in die Hand nehmen.“

„Er will absolut nicht,“ sagte Ilse rasch. „Und das ist mir auch gar sehr lieb, von wegen“ – sie schwieg einen Augenblick wie verlegen um die passende Form – „na, von wegen der zerbrochenen Steinbilder und Scherben, die er immer kauft,“ fügte sie rasch entschlossen hinzu.

Sie stellte den Blechkasten auf einen Tisch und schloß ihn auf. Herr Claudius griff hinein und durchlief die Documente.

„Es sind viel verfallene Coupons dabei; aber die Papiere sind gut,“ sagte er und legte sie wieder in den Kasten. „Also ich soll das Geld verwalten? … Wollen Sie, daß die Zinsen zu dem Capital geschlagen werden?“

„Ach ja, sparen Sie, soviel wie möglich!“ versetzte Ilse. „Aber freilich, der Herr Doctor ist gar sehr vergessen, und da wird es wohl gut sein, wenn die Kleine manchmal selbst ein paar Groschen in die Hand bekömmt, damit sie sich helfen kann.“

„Wo ist die junge Dame?“

„Aber so lassen Sie sich doch auch einmal sehen!“ sagte Charlotte zu mir. Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mir den Hut vom Kopfe genommen, strich mir mit den Händen glättend über das wilde Haar und schob mich an den Schultern hin, so ungefähr, wie ein Kind, das seine eingelernten Geburtstagsverse hersagen soll. Diesmal trat ich vollkommen unbefangen hin. Vor dem Mann mit der trockenen, ruhigen Geschäftsmiene fühlte ich nicht die mindeste Scheu – ich sah so arglos zu ihm auf, wie ich den alten Herrn in der Haide gesehen hatte. Ich glaube, ich hätte den Muth gefunden, ihm entschieden zu widersprechen, wenn er von seinen Todtenkränzen aus getrockneten Blumen angefangen.

In dem Moment, wo sich unsere Augen begegneten, sah ich auch das Wiedererkennen in den seinen – er war doch der Herr mit der blauen Brille.

„Ach sieh’ da! Das seltsame, kleine Mädchen, das noch nie Geld gesehen hatte!“ sagte er überrascht.

„Ja, Onkel, das Haideprinzeßchen, wie Dagobert sagt – die kleine, freie Haidelerche, die Euch Euer Geld vor die Füße geworfen hat und sich nicht so ohne Weiteres in den Vogelbauer stecken läßt!“ rief Charlotte lachend. „Nun, Kleine, machen Sie doch Ihre Reverenz vor dem alten Herrn!“

Es lief fein röthlich über das Gesicht des Herrn Claudius hin.

„Keine Possen, Charlotte!“ sagte er so ernst und streng, wie er Dagobert in der unglückseligen Schuhaffaire zurechtgewiesen hatte.

„Sind Sie damit einverstanden, daß das Geld in meine Hände niedergelegt wird?“ fragte er mich freundlich.

Es erschien mir so wunderlich, zum ersten Mal in meinem Leben ernstlich über einen Besitz verfügen zu sollen, daß ich lachen mußte. „Gehört es mir denn wirklich?“ fragte ich.

„I nu freilich – wem denn sonst?“ sagte Ilse ärgerlich.

„Es gehört mir so, wie meine Hand da, oder wie meine Augen – ich kann eben damit thun, was ich will?“ fragte ich beharrlich, aber auch fast athemlos vor Spannung weiter.

„Nein, so unumschränkt dürfen Sie augenblicklich noch nicht darüber verfügen,“ sagte Herr Claudius – er hatte wieder den milden, weichen Ton, wie in der Haide. „Sie sind noch viel zu jung. … Wenn ich die Papiere, behufs der Verwaltung, übernehme, dann müssen Sie mir auch über jede Summe, die Sie von mir einfordern, Rechenschaft ablegen.“

„Ach, dann ist’s nichts,“ sagte ich niedergeschlagen und traurig.

„Haben Sie einen speciellen Wunsch?“ Er bog sich nieder und sah mich fragend an.

„Ja, Herr Claudius, aber ich will ihn lieber nicht sagen – Sie erfüllen ihn doch nicht.“

„So – hm, woraus schließen Sie denn das?“ fragte er gelassen.

„Weil ich vorhin gesehen habe, daß Sie den armen Handwerksburschen ohne Almosen fortschickten,“ antwortete ich muthig.

„Ach so, Sie wollen Jemand unterstützen.“ Er blieb völlig unbewegt, mein indirecter Vorwurf hatte ihm nicht den mindesten Eindruck gemacht.

„Aber was fällt denn der Kleinen ein?“ rief Ilse ganz erstaunt. „Wen willst Du denn unterstützen, Kind? Du kennst ja auf der Gotteswelt Niemand!“

„Ilse, Du weißt es,“ sagte ich bittend. „Du weißt recht gut, wer jetzt in Noth ist und vielleicht jede Stunde zählt, bis Geld aus Hannover kommt –“

„Höre, Lenore, wenn Du mir damit kommst, da hat Alles ein Ende,“ unterbrach sie mich. Sie war so zornig, wie ich sie noch nie gesehen. „Ein für allemal, nicht ein Groschen wird hingegeben!“

„Nun, dann behaltet Euer Geld!“ rief ich heftig, während die hervorquellenden Thränen meine Augen verdunkelten. „Ich nehme aber auch nie einen Groschen davon – niemals, darauf kannst Du Dich verlassen, Ilse! … Lieber will ich in der Hinterstube Todtenkränze und Bouquets für Herrn Claudius binden!“

Er sah mich an. „Wer hat Ihnen denn schon von dieser Hinterstube erzählt?“

Meine Augen huschten unwillkürlich zu Charlotte hinüber. Sie erröthete und lachte.

„Charlotte hat gescherzt, Herr Claudius!“ sagte Fräulein Fliedner mild entschuldigend. Als mir die Thränen hervorbrachen hatte die alte Dame sofort ihren Arm um meine Schultern gelegt und mich an sich herangezogen. Ilse dagegen erbitterte mein „kindisches Wesen“ immer mehr. Sie legte ihre große, hartgearbeitete Hand schwer und dröhnend auf den Deckel des Blechkastens, als solle er damit gefeit und verschlossen werden für jeden unbefugten Eingriff.

„Herr Claudius, leiden Sie es ja niemals, daß Lenore Geld fortschickt!“ warnte sie dringend. „Ich sage Ihnen, thut sie es einmal, nachher ist auch schon ihr bischen Ererbtes so gut wie verloren! … Ich kann Ihnen das nicht so auseinandersetzen, – es ist eben eine schlimme Familiengeschichte, die begraben bleiben muß … o Herr Jesus, daß Einen solch ein junger Mund auch zwingt, so Etwas vor Anderen auszukramen! … Kurz und gut, es handelt sich um eine Verwandte, die Schande auf Schande über das Haus gebracht hat, die ausgestoßen ist –“

„Kennen Sie diese Anverwandte?“ fragte Herr Claudius, sich an mich wendend.

„Nein – ich habe sie nie gesehen und weiß erst seit vier Wochen, daß sie lebt –“

„Sie bittet um eine Unterstützung?“

„Ja, in einem Brief an meine todte Großmutter. … Aber Niemand will ihr Etwas geben. … Sie ist unter die Komödianten gegangen, sagt Ilse, und ist eine Sängerin –“

Ein heißes Erröthen schoß über das Gesicht des Mannes – er schlug den Folianten neben sich zu.

„Aber sie hat ihre Stimme verloren, ihre wunderschöne Stimme!“ fuhr ich fort und suchte angstvoll und bittend seine Augen – er wandte sie weg. „Wie schrecklich muß es sein, wenn man singen will, und die Töne versagen! … Ilse, Du bist doch so gut, wie kannst Du es nur über das Herz bringen, nicht zu helfen, wenn Jemand in Noth ist!“

„Wie viel beträgt die Summe, die Sie verlangen?“ schnitt Herr Claudius mit seiner ruhig milden Stimme meine leidenschaftlichen Bitten ab.

„Einige hundert Thaler,“ versetzte ich muthig.

Ilse schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist,“ sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Mag es doch sein, so viel es will. Ich gebe es freudig hin – wenn sie nur ihre Stimme wieder bekommt!“

„Ja, das glaube ich!“ lachte Ilse ingrimmig auf. „Solch ein Kindskopf handelt eben in’s Tageslicht hinein und fragt viel danach, was daraus folgt!“

„Ich will Ihnen das Geld geben,“ sagte Herr Claudius zu mir.

Ilse schrie förmlich auf.

„Seien Sie doch ruhig. Ich werde Sorge tragen, daß Fräulein von Sassen kein Verlust daraus erwächst – ich stehe dafür ein!“ Er griff in eine neben dem Schreibtisch stehende Cassette und legte mir vier Banknoten hin. Dann warf er mit flüchtiger Feder einige Worte auf einen Briefbogen „Haben Sie die Güte, diese Quittung zu unterschreiben.“ Er reichte mir seine Feder hin.

„Das muß Ilse thun – ich schreibe zu schlecht,“ sagte ich unbefangen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_627.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)