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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Weiteres auf die Stirn. Neben ihr stand der junge Mann aus dem Comptoir – bleich wie ein Gespenst, mit versagenden Blicken – er war der Erste, der ihr zu Hülfe gekommen. … Ich sah Charlottens Auge sein Gesicht streifen – sie wurde dunkelroth; aber auch sofort wandte sie sich leichthin mit einer so gleichgültigen Bewegung ab, als schwebe ihr ein geringschätzendes „Ah bah!“ auf den Lippen.

Alle bewunderten einstimmig ihre Kraft und Kühnheit, ich selbst hätte ihr die kraftvollen Hände küssen mögen – nur Herr Claudius hatte kein Wort für sie.

„Wer hat beide Flügel der Gartenthür aufgemacht?“ fragte er streng und trat mitten unter die Leute, die sofort ehrerbietig auseinanderstoben.

„Ich wollte die Blumen auf den Tischen bei Banquier Tressel erneuern und hatte zwei Leute mit der großen Trage bei mir, und da mußten beide Flügel der Thür aufgemacht werden,“ sagte der Gärtner mit der sanften Stimme, der uns gestern Morgen im Garten den Weg gezeigt. „Vor den großen Oleanderbäumen auf der Trage mag wohl auch das Pferd gescheut haben.“

Herr Claudius schwieg. Er sagte weder ein tadelndes Wort zu Dagobert, der das fremde Pferd in den Geschäftshof gebracht, noch schalt er den Jockey dafür, daß er dasselbe nicht besser gehütet. Auch über die Zerstörung im Garten fiel nicht eine Bemerkung von seinen Lippen. Er betrachtete den schweißtriefenden Goldfuchs aufmerksam. Es war ein schönes Thier, aber in der Art und Weise, wie es den Kopf gesenkt hielt und ihn dann unversehens zurückwarf, lag etwas Tückisches.

Unterdeß hatte sich Dagobert auf den Rücken des Pferdes geschwungen, und plötzlich flogen Roß und Reiter wieder in den weiten Hof zurück. … Das war nun freilich ein herrlicher Anblick. Nach kurzer, leidenschaftlicher Gegenwehr fügte sich das Thier seinem Herrn und Meister und gehorchte scheinbar dessen feinstem Winke.

Wie verschwanden alle die Männer, die umherstanden, selbst der auffallend schöne, junge Helldorf nicht ausgenommen, vor dem Tancred dort mit dem kastanienbraunen Gelock! … Nur an dem jähen Aufschießen einer hellen Purpurröthe über die Wangen des Reiters hin sah man, daß das Pferd insgeheim Widerstand leiste, die elastische Gestalt des erstern ließ keine erhöhte Kraftanstrengung merken.

„Onkel,“ rief er herüber, „verzeihe Darling seine Unart um seiner herrlichen Eigenschaften willen! … Ist er nicht prächtig? Sieh ihn Dir an! Mit seinem zierlich elastischen Bau, dem kleinen Köpfchen auf dem schlanken Halse, fein wie eine graziöse Dame, hat er Muth und Feuer wie ein Held … Onkel, sein Besitz macht mich zu glücklich!“

„Das thut mir sehr leid, Dagobert, denn ich kaufe ihn nicht. … Der Herr Graf mag ihn selbst reiten,“ sagte Herr Claudius bedauerlich, aber sehr fest, und ging, den angerichteten Schaden zu besehen.

Mit einem Satz sprang Dagobert von dem Thier herab und reichte dem malitiös lächelnden Jockey den Zügel hin, „Ich lasse den Grafen grüßen und werde weiter mit ihm sprechen,“ sagte er mit fliegendem Athem.

Der Mensch ritt fort, und die Umstehenden zerstreuten sich schleunigst, um auf ihren Posten zurückzukehren.

(Fortsetzung folgt.)




Der Genialsten Einer.
Von La Mara.

Ja, der genialsten Einer unter den mitlebenden jüngeren Künstlern ist aus dem Leben gegangen. Vor der Zeit, in der Blüthe der Manneskraft, fast ein Jüngling noch in der äußern Erscheinung ward uns Karl Tausig durch ein neidisches Schicksal entrissen. Dem unfehlbaren Virtuosen, wie die Geschichte der Kunst außer dem einzigen Liszt keinen größern kennt, dem feinsinnigen Interpreten der verschiedensten Meister und Epochen, dem unermüdlichen Lehrer und Förderer der Tonkunst, ihm ward ein karges Maß irdischen Daseins gesetzt und eine frühzeitige Ruhe beschieden, noch bevor er sein Tagewerk vollenden durfte. Sollten wir darob nicht klagen? Wohl ist die Schule des Meisters, an dessen Größe die seine sich emporgerankt, nicht an diese eitle Erscheinung gebunden. Noch haben wir Bülow, Bronsart, Sophie Menter und Andere, die die Errungenschaften seiner Virtuosität auch kommenden Zeiten zu übermitteln berufen sind; aber der Geist seines großen Lehrers war am reinsten auf ihn übergegangen, dessen wahlverwandtester Jünger er schien. Polnisches Blut, wie es heiß in seinen Adern strömte, steht ungarischer Art nicht allzu fern. An Leidenschaft und dämonischer Kraft glich Tausig seinem Meister am ehesten, wenn ihm auch dessen Idealität, der wundersame Zauber seiner Menschlichen und künstlerischen Individualität fremd geblieben. Hätte man jemals an einen Erben Liszt’s denken können, so hätte Tausig gegründetere Ansprüche als je ein Anderer auf solch stolze Erbschaft gehabt. Von dem Knaben schon hatte der Meister das große Wort gesprochen: „Er soll auf meine Schultern treten“ – doch es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen!

Nicht aber die müßige Hoffnung, daß er uns Liszt, den für die Oeffentlichkeit verstummten souveränen Beherrscher des Claviers, ersetzen könnte, ist uns mit seinem Tode verloren gegangen. Wir meinen, daß die Natur nur einmal und nicht wieder gleich verschwenderisch spendet; auch trug sich Tausig selber nicht mit so stolzen Plänen, und an ein Erreichen des Höchsten hat er niemals gedacht. „Er ist ein Riese, wir sind nur Menschen,“ sagte er selber im Hinblick auf Liszt noch an jenem letzten Abend, den er in leidlicher Gesundheit hienieden noch verleben durfte, in dem geselligen Kreise, der sich Liszt’s Anwesenheit zu Ehren in Leipzig versammelt hatte. Er war erfüllt von der Bedeutung Dessen, deß Lehre und Beispiel er nächst dem Segen von oben nahezu Alles dankte, was er erreicht, und dessen Hand ihn mit wahrhaft väterlicher Fürsorge geleitet bis zur Via triumphalis seines kurzen Künstlerlebens. So war auch seine letzte That auf Erden noch ein Act der Liebe für den Meister. Um ihn vor der Abreise aus Deutschland noch einmal zu sehen und die von ihm aufgeführten Kirchenwerke zu hören, war er trotz Unwohlseins nach Leipzig gekommen. Er kam, um hier zu sterben.

Am 4. November 1841 ist Karl Friedrich Tausig zu Warschau geboren. Dort genoß sein Vater, Aloys Tausig, den Ruf eines ebenso trefflichen Pianisten als Musiklehrers; er leitete den ersten Unterricht seines Sohnes in der Tonkunst. Still und geräuschlos entfaltete sich dessen wahrhaft phänomenale Begabung; und nichts von Alledem verlautete, was man sich sonst von Wunderkindern erzählt. Ein wohlthätiger Zweck nur führte den neunjährigen Knaben ein einziges Mal in den Concertsaal; was er dort producirte, war das Resultat bereits fünfjähriger Studien. Er hatte sein vierzehntes Jahr erreicht, da brachte ihn sein Vater nach Weimar zu Liszt, um seine weitere Ausbildung in dessen vielvermögende Hände zu legen. Beim ersten Anhören schon erstaunte der Meister über dies außerordentliche Talent, denn die geistigen Schwingen regten sich schon gewaltig in dem schwächlich aussehenden Knaben, der sich bald zu stolzem Flug emporheben sollte.

Doch trug Liszt Bedenken, seinen weitern Unterricht zu übernehmen, und beschied den Vater ablehnend mit dem Bemerken, daß bei einer solch riesigen Organisation die freie selbstständige Entwicklung ohne Lehrer die fruchtbarste sei. Indeß bestand Karl selbst darauf, bei Liszt zu verbleiben. Er studirte übermäßig und legte, unter Vorbildnahme der Universalität seines Meisters, den Grund zu seiner umfassenden allgemeinen Bildung. Ohne Neigung für die Geselligkeit, in der er sich bis an sein frühes Ende gleich blieb, verhielt er sich meist zurückgezogen in Weimar, zufolge des ihm eigenen scharf ironischen Humors nur manchmal in kleine Händel verwickelt und darum während seiner Jünglingsjahre nicht eben sehr beliebt und gern gesehen. Nur Liszt blieb ihm immerdar ein milder wohlgeneigter Freund, wiewohl er nicht selten der allzu großen Nachsicht gegen den übermüthigen Schüler beschuldigt wurde. „Ich konnte wohl nicht anders und liebte ihn von Herzen,“ sagt er selbst von ihm, und neidisch räumte man dem kleinen Karl Tausig das Vorrecht ein, das enfant gâté der Altenburg zu sein.

Auf den öfteren Reisen, zu denen Liszt durch die Aufführung seiner Werke veranlaßt wurde, durfte er ihn begleiten, so nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_630.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2020)