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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

urrespectablen, urdeutschen Hause der Samendüten! … Na, das würde seinen ehrwürdigen, steifen Zopf schön geschüttelt haben! … Nein, nein, in uns ist nicht ein Atom dieses biderben deutschen Krämerelements! Dagobert und ich, wir sind Franzosen durch und durch, Franzosen mit Leib und Seele! … Gott sei Dank, wir haben auch nicht einen Tropfen dieses Fischblutes in unseren Adern! … Adoptivkinder sind wir – Onkel Erich hat uns angenommen, Gott mag wissen, weshalb – aus mitleidig gerührtem Herzen ganz gewiß nicht! … Das klingt vielleicht abscheulich gerade aus meinem Munde; aber ich kann es nun einmal nicht glauben!“

Sie umschlang mich wieder und ging langsamen Schrittes weiter.

„Diese Aufnahme in sein Haus wäre an und für sich ja ganz edel und lobenswerth, und ich würde gewiß nicht die Letzte sein, die ihm dafür dankte,“ fuhr sie fort; „wenn sich nur nicht gerade auch hier wieder der crasseste Despotismus so sichtbar zeigte. Er hat uns seinen Namen octroyirt – während wir Méricourt heißen, müssen wir uns Claudius nennen, Claudius schreiben. … Claudius, was für ein schrecklicher, bockbeinig steifer, spießbürgerlicher Name! … Wenn er den das deutsche Ohr bestechenden Namen Méricourt einigermaßen aufwiegen wollte, dann müßte er wenigstens das ‚von‘ vor sich haben. … Wir haben durchaus keine Ursache, für diesen unfreiwilligen Umtausch dankbar zu sein! Er hängt uns die Krämerfirma an die Stirn und ist ganz besonders hinderlich bei Dagobert’s Carrière als Soldat.“

„Er ist ein Soldat?“ rief ich erstaunt. Fräulein Streit hatte oft genug ausführlich beschreibend von dem zweifarbigen Tuch mit den blanken Knöpfen erzählt, das einst auch im Hause meines Vaters Zutritt gehabt hatte.

„Nun, wundert Sie das so sehr? … Ach so. Sie haben ihn ja noch nicht im Lieutenantsrock gesehen! Aber ich sollte meinen, man erkenne auch im Civil sofort den Officier in ihm. Er liegt in Z. in Garnison und ist auf mehrmonatlichen Urlaub hier. … Ich bin stolz auf Dagobert. Wir harmoniren zusammen und ergänzen uns gegenseitig, wie selten ein paar Geschwister. Wir lieben uns vielleicht um deswillen noch mehr, als wir lange, lange getrennt gewesen sind. Ich habe von meinem dritten Lebensjahre an bis vor zwei Jahren im Institut gesteckt und er zuerst in einer Professorenfamilie und dann im Cadettenhause.“

Wir traten heraus auf das Parterre vor der Karolinenlust.

„Komm, Hans, komm!“ rief Charlotte. Der Kranich, der eben wieder am Deiche Posten stand, rannte auf sie zu wie ein feuriger Anbeter; von verschiedenen Seiten stürzten Pfauen und Perlhühner herbei und hier und da blinkte auch ein Fasanengefieder auf, aber es schlüpfte sofort wieder in das Gebüsch zurück – meine Anwesenheit verscheuchte die scheuen Thiere.

„Nun sehen Sie nur diese unverdiente Liebe von allen Seiten!“ lachte Charlotte. „Die ist wirklich mühelos erworben; ich füttere die Thiere nie und schmeichle ihnen nicht, und doch verfolgen sie mich auf Tritt und Schritt, sobald sie meine Stimme hören. Ist das nicht seltsam?“

Ich fand es ganz und gar nicht seltsam. Lief ich doch selber schon wie ein von ihr verwöhntes, aber darum auch enthusiastisch treues Hündchen neben ihr her. Ich war noch viel zu unerfahren und urtheilslos, um die Macht ihrer Persönlichkeit auf einzelne Eigenschaften zurückführen zu können. Jedenfalls war es hauptsächlich die unglaubliche Sicherheit und Kraft in ihrer Gesammterscheinung und in jedem ihrer mit fester, klangvoller Stimme gesprochenen Worte, was mir imponirte und mich so bestrickte, daß ich sie selbst und Alles, was sie sagte, bereits wie ein geoffenbartes Evangelium hinnahm – daß sie auch irren und Unrecht haben könne, wäre mir nicht eingefallen.

„Wo sind denn die Leute hingereist, die da drin wohnen?“ fragte ich und zeigte auf die versiegelten Thüren, als wir in der Karolinenlust die Beletage durchschritten.

Charlotte sah mich groß und zweifelhaft an, als sei es nicht ganz richtig bei mir; dann lachte sie laut auf. „Versiegelt man denn bei Ihnen zu Lande die Thüren, wenn man verreist? Hat etwa auch Frau Ilse den Dierkhof versiegelt? … Ha, ha, ha! Wo die Leute hingereist sind? … In den Himmel, Kleine!“

Ich erschrak heftig. „Sie sind gestorben?“

„Nicht sie, sondern Er. … Ein lediger junger Herr hat die Beletage bewohnt, Lothar, Onkel Erich’s älterer und einziger Bruder – ein prachtvoller Officier. Sie werden sein sehr schön gemaltes Oelbild kennen lernen, es hängt im Vorderhause, im Salon –“

„Und er ist todt?“

„Todt, Kindchen, wirklich, unwiderruflich todt. … Er ist am Schlagfluß gestorben, wie die officielle Todesanzeige besagt – ganz insgeheim aber hat er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Die Welt bringt seinen Tod mit einer Prinzessin des herzoglichen Hauses in Verbindung –“

„Heißt diese Prinzessin Sidonie?“ fuhr es mir heraus.

„Ei, der kleine Wildling aus der Haide hat auch genealogische Kenntnisse? … ‚Hieß,‘ müssen Sie übrigens sagen, denn Prinzessin Sidonie ist auch längst gestorben – einige Tage vor dem Tode des schönen Officiers. … Das ist eine längst verschollene Welt, über die Niemand etwas Bestimmtes weiß, ich aber am allerwenigsten. Ich weiß eben nur, daß die Siegel da kleben und nach der letzten Verfügung des ehemaligen Bewohners dran bleiben sollen, bis – na, bis an das Ende aller Tage – will’s Gott! … Hineingucken möchte ich schon einmal – so ganz verstohlen. Aber da ist ja Alles verrammelt und verbarrikadirt für die Ewigkeit, und Onkel Erich wacht wie ein Argus über den Siegeln.“

Himmel, wenn der unerbittliche Mann mit dem durchdringenden Blick je erfahren sollte, daß die Fremde bereits hinter den Siegeln umhergehuscht war! Ein Zittern durchlief meine Glieder, und ich preßte die Lippen fest auf einander – daß mir um Gotteswillen nur nie das unselige Geheimniß entschlüpfte! … Kaum in die Welt eingetreten, hatte ich schon etwas vor ihr zu verbergen, ich, deren Gedanken und Plaudereien bis dahin so zwanglos, so frank und frei hinausgeflattert waren wie meine wilden Locken im Haidewinde.

Unterdeß war auch Ilse, hinter uns her, die Treppe heraufgekommen und schalt mich, daß ich „ihr durchgebrannt sei, derweil sie sich das Unheil im Gewächshause angesehen“.

„Das ist ja eine schöne Geschichte, die das gräuliche Thier angerichtet hat!“ sagte sie ganz entrüstet. „Zwei von den großen theuren Glasscheiben sind total zerschlagen, und einen großen Baum hat es mit dem einen Tritt auch umgeworfen – die schönen rothen Blumen liegen wie hingeschneit an der Erde herum. … Und da ist der Mann mäuschenstill und sagt kein Wort – das hätte mir passiren sollen!“

„Onkel Erich hat Camelien genug,“ sagte Charlotte leichthin und spöttisch, „die paar abgeknickten Blüthen zählen nicht! … Uebrigens glauben Sie ja nicht, daß auch nur eine einzige unbezahlt bleibt; die werden auf Draht gesteckt und kommen in die Bouquets, die auf heute Abend zu einem Bürgerball massenhaft bestellt sind. Bei uns kommt nichts um – darauf können Sie sich verlassen.“

Sie öffnete die Thür des Bibliothekzimmers; ich aber drängte mich neben ihr hinein und lief nach der Fensterecke, wo mein Vater arbeitete. Nein, sie durfte es nicht sehen, wie er so lächerlich auffuhr von seiner Schreiberei und so hülf- und verständnißlos in die Welt hinein sah! Sie durfte nicht lachen, ich litt es nicht!

„Vater, wir sind wieder da,“ sagte ich und legte meinen Arm um seinen Hals, so konnte er nicht emporfahren, und er that es auch gar nicht, er schlug nur die Augen auf und sah lächelnd in mein vorgeneigtes Gesicht. Ich war überglücklich – er kannte bereits meine Stimme, und ich hatte Macht über ihn.

„So, kleiner Schalk, so überrumpelst Du mich?“ scherzte er und klopfte meine Wange. „Wenn Du aber ganz so werden willst wie Deine liebe Mama, dann darfst Du nur ganz, ganz leise die Hand auf meine Stirn legen oder eine Blume auf mein Manuscript fallen lassen und mußt husch wieder draußen sein, ehe ich mich nur besinnen kann, wer es gewesen.“

Mir gab es jedesmal einen schmerzenden Stich durch’s Herz, wenn er meine Mutter, die er über Alles geliebt haben mußte, in der Weise erwähnte – für ihn hatte sie tausend zartsinnige Aufmerksamkeiten gehabt, aber ihr einsames Kind hatte nicht für sie existirt.

Jetzt sah mein Vater auch Charlotten. Er sprang auf und verbeugte sich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_642.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)