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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

zu der Zeit, wo er zuerst beobachtet oder wo wenigstens zum ersten Male über ihn berichtet wurde, zur Zeit des blühendsten Teufels-, Gespenster- und Hexenglaubens, gleich bei Beginn des siebenzehnten Jahrhunderts, einen Schrecken durch den ganzen Wald verbreitete, in welchem er sich sehen ließ. Die Art der Erscheinung selbst trug allerdings dazu ganz besonders bei. Das einzig in seiner Art dastehende geheimnißvolle, widerlich schlangenähnliche, geräuschlose und langsam gemessene, aber unaufhaltsame Dahinschleichen der Heerwurmszüge im Waldesdunkel zur Abendzeit, während der Nacht oder in der Morgenfrühe und das allmähliche spurlose Verschwinden unter der Laub- oder Nadeldecke des Bodens konnte selbst für weniger befangene Blicke eine unheimliche und für zaghafte Gemüther grauenvolle, gefürchtete Erscheinung sein, an die dann der Aberglaube seine Vorbedeutungen mehr schlimmer als guter Art knüpfte. In seiner bald ein-, bald mehrköpfigen Gestalt hielt man den Heerwurm für ein Mittelding zwischen Wurm und Drache und belegte ihn mit den Namen Heerschlange, Kriegsschlange, Kriegswurm, Wurmdrache, Drachenschlange, Schlangenwurm etc. im Thüringerwalde, im Harze, wie im Riesengebirge. Den Bewohnern der letzteren beiden war er ein Vorbote schlechter Ernte, wenn er bergan zog – daher von den Harzern auch vorzugsweise Hungerwurm genannt – gesegneter aber, wenn er thalwärts kroch. Den Thüringerwäldlern verkündete er Krieg im Bergaufziehen, Frieden im Abwärtsziehen, doch wurde er im Allgemeinen mehr als Vorbote des Krieges gefürchtet, denn als Friedensbote begrüßt. Und, nicht blos für die Geschicke ganzer Länder und Völker wurde demselben prophetische Bedeutung beigelegt, sondern selbst einzelne Personen glaubten ihr kommendes Geschick von ihm erfahren zu können. Männer und Frauen in Thüringen warfen gleich den Bewohnern Schwedens und Norwegens ihre Gewänder – Jacken oder Schürzen – der Heerschlange in den Weg, auf daß sie darüber hinwegkröche, und erachteten dies, wenn es geschah, für ein glückverheißendes Zeichen. Kinderlosen Frauen bedeutete es den gewünschten Ehesegen und den Hoffenden eine leichte und glückliche Entbindung.

Die Goralen des Tatragebirges im Nordwesten der Karpathen, wo der Heerwurm in neuerer Zeit mehrfältig, aber fast ausschließlich nur in Nadelholzbeständen beobachtet ist, halten denselben für das Vorzeichen einer gesegneten Ernte. Die Landleute sammeln und trocknen ihn, lassen ihn in der Kirche weihen und streuen ihn in Scheunen, Ställen, Zimmern, Feldern etc. aus, da sie glauben, Brod und Glück halte sich an einem solchen Orte. Sie prophezeien auch für Polen Fruchtbarkeit, wenn der Heerwurm bergab gegen Norden zieht, für Ungarn aber, wenn er bergauf in südlicher Richtung gegen die ungarische Seite gleitet. Diese Bedeutung verdankt der Heerwurm der folgenden Sage. Als Polen noch ungetheilt war, ging ein Weib während einer Hungersnoth nach Ungarn, um dort Brod zu kaufen. Unverrichteter Sache heimkehrend, fand sie in der Tatra einen ziehenden Heerwurm und nahm ihn in einem Tuche mit sich. Zu Hause angelangt, warf sie den ausgehungerten Kindern den Geldsack vor die Füße und vertröstete sie, es werden gute Jahre wiederkehren, denn der Heerwurm ziehe nach Polen. Seitdem gilt der Heerwurm als Prophet von Geschlecht zu Geschlecht, und Niemand vertilgt ihn, da man weiß, daß er keinen Schaden anrichtet. In der Babia-Gora, einem Zweige der Karpathen, betrachtet man den Heerwurm als ein Vorzeichen fruchtbarer Jahre, wenn er bergan zieht, von Mißjahren hingegen, wenn er von Berg zu Thal wandert. Die Hirten nennen ihn Zyr; wer ihn findet, bringt ihn in einen neuen Topf und stellt diesen zwischen die Schafe, auf daß sie gedeihen.

Aus dieser Finsterniß des Aberglaubens bis zur vollen Klarheit der Einsicht in den Verlauf des Insectenlebens, von welchem der Heerwurm der interessanteste Theil ist, führte ein so langsam aufsteigender Pfad mit so vielen Hindernissen, daß erst vor zwei Jahren der letzte Zweifel darüber gelöst werden konnte. Die erste gedruckte Nachricht über den Heerwurm gab Caspar Schwenkfelt zu Liegnitz im Jahre 1603 in seinem jetzt sehr seltenen „Thiergarten Schlesiens“. Schwenkfelt nannte die ihn bildenden Maden oder Larven von ihrer einigermaßen an die kleinen weißen, unter dem Namen Ascariden bekannten menschlichen Eingeweidewürmer erinnernden Gestalt ascarides militares und hielt sie für wirkliche Würmer, „die zur Sommerzeit gleichsam wie Ketten zusammenhängend kröchen, wie wenn sie ein Heer bildeten“.

Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt M. Christian Junker, Rector der Schule zu Schleusingen, in einer Beschreibung der Grafschaft Henneberg den Heerwurm als eine sonderliche Art Waldwürmer, die der Oberförster Hans Christoph Ludwig zu Ilmenau in seinen Forsten beobachtet habe. Er sei drei Finger breit, ineinandergeschlungen wie Weiberzöpfe, und man sage, daß er ganze Berge einnehme zu fünfzehn bis zwanzig Klaftern (fünfundvierzig bis sechszig Ellen) lang.

In einigen Theilen von Deutschland, zumal am Thüringer Walde und am Harz war diese Erscheinung dem Volke schon lange genug bekannt gewesen und hatte, verschiedene Beurtheilung erfahrend, auch die Aufmerksamkeit der Fachleute auf sich gezogen, bis endlich der Professor Dr. Nowicki zu Krakau den Heerwurm in den Karpathen beim Dorfe Kopaling beobachtete, aus seinen Larven die Mücke züchtete und in ihr eine bis dahin noch nicht beschriebene Art erkannte, der Thomas-Trauermücke in ihrem schwarzen Kleide mit gelber Seitenstrieme jederseits am Leibe des Weibchens zwar ähnlich, aber doch durch ganz charakteristische Merkmale und insbesondere auch durch geringere Größe davon verschieden, die er Sciara militaris genannt hat. Diese, sowie gleichzeitige Beobachtungen auf dem Harz berechtigen nunmehr zu der endgültigen Annahme, daß alle Heerwürmer nur von Larven der Sciara militaris gebildet werden.

Die vielbewunderten Heerwurmsprocessionen geschehen in folgender Weise: die nicht ganz einen halben Zoll langen, schlanken, weißlichen, glasglänzenden, wässerig durchscheinenden, fußlosen Maden mit schwarzbraun erscheinendem Inhalte des den Körper fast seiner ganzen Länge nach durchziehenden Darmes und mit glänzend schwarzem kleinen Kopfe kriechen neben-, über- und hintereinander genau nach derselben Richtung hin und bilden, durch die klebrige Beschaffenheit ihres Körpers zusammengehalten, einen bald breiteren, bald schmaleren, bis zu dreißig Fuß und darüber langen, seilähnlichen oder schlangenförmigen, meist aus tausenden von Individuen zusammengesetzten, innig vereinten Zug, der gewöhnlich vorne am breitesten ist, sich nach hinten allmählich verschmälert und schließlich nur noch von einzelnen bindfadenartig hintereinander herziehenden Larven formirt wird. Die emsige Bewegung aller der eng aneinander geschlossenen Larven nach demselben Ziele hin läßt die Procession als ein einziges, in sich abgeschlossenes Individuum erscheinen, und die durch die glänzenden schwarzen Köpfe und den schwarzbraun durchscheinenden Darminhalt hervorgerufene bräunlichgraue Färbung des Ganzen erinnert einigermaßen an eine Kreuzotter.

Mitunter und namentlich bei einem im Wege stehenden Hindernisse theilt sich das vordere, den Kopf des Wurmes darstellende Ende in zwei oder mehrere Stränge, die sich gelegentlich wieder vereinigen. Die Wanderung, die, wie bereits bemerkt, in der Regel zur Abendzeit und die Nacht hindurch bis zum Morgen geschieht, ist nicht, wie man lange gefabelt hat, an eine bestimmte Richtung – von Süd nach Nord – gebunden, sondern folgt den verschiedensten Himmelsgegenden. Durch starken, den Boden anfeuchtenden Thau oder durch Regen wird die Fortbewegung der Larven begünstigt oder ermöglicht und deshalb bewegen sich die Züge, deren in der Regel mehrere oder viele in der Nähe bei einander gefunden werden, an regnigen Tagen auch wohl bis zum Mittage und länger auf dem Boden umher; dann verschwinden sie wieder spurlos für längere oder kürzere Zeit unter der Laub-, Nadel- oder Moosdecke des Waldes. Sonnenschein vertragen die Larven nicht und schon helleres Tageslicht ist ihnen zuwider.

Wird ihr Zug unterbrochen, so suchen sie sich immer wieder möglichst rasch zu einem solchen zu vereinigen. Eine Thüringerwäldlerin sah einst am frühen Morgen den Heerwurm als eine entsetzlich lange Schlange quer über die Straße kriechen, deren Breite nicht hinreichte, daß man Kopf und Schwanz der Schlange hätte sehen können. Die Frau faßte sich ein Herz und zertrat die Schlange an mehreren Stellen, allein zu ihrem großen Schreck wuchs dieselbe bald wieder zusammen. Da gerieth die Frau plötzlich in Furcht und Angst, sie ergriff die Flucht und betrat denselben Weg lange nicht wieder, denn, meinte sie, eine zertretene Schlange, die so schnell wieder zusammenwachse, was nicht mit rechten Dingen zugehe, könne Unglück bringen über Menschen und über Vieh.

Was nun den Zweck dieser regelmäßigen Wanderungen betrifft, so meinte man früher, die Veranlassung dazu sei, einen in Verwesung begriffenen thierischen Leichnam oder Mist von Wild und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 666. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_666.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)