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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

ich begegnete keiner Seele und schlug die Straße nach heim ein. Deine Mutter würde Morgens früh auf der Wiese das Heu wenden, das wußte ich, denn sie hatten den Samstag gemäht. Dort konnte ich sie allein treffen. Für mich hoffte ich nichts mehr, aber ich wollte ihr noch gerade in’s Gewissen reden, daß sie sich behütete – und dann fort, fort auf immer, in die neue Welt!

Es kam aber anders. Ich lief durch die Nacht schneller heim, als ich selber wußte. Der Mond ging unter, ich sah den Morgenstern über meinem Dorfe stehen, als ich von der Eifel in’s Ahrthal hinabstieg. Jetzt erkannte ich im Sternenschein das Haus, wo Deine Mutter wohnte, erkannte ihr Fenster – und in dem Fenster brannte ein Licht.

Sie ist wach, und er ist bei ihr, rief ich aus in wilder Wuth. Aber wenn das ist, so will ich’s wissen, und er soll mir Rede stehen!

Ich stieg vollends in’s Thal hinab und legte mich unter einen Hollunderbusch auf die Lauer, wo ich das Fenster und die Hinterthür des Hauses recht im Auge hatte. Mir war zu Muth nicht wie einem Menschen, sondern wie einem wilden Thier. Ich hatte Deine Mutter immer so in Ehren gehalten, ich hätte nicht daran gedacht, etwas von ihr zu begehren, denn ich meinte, sie sollte als ehrliches Mädchen meine Frau werden. Und nun dieser Bösewicht!

Langsam fing es zu dämmern an, die Sterne verblichen. Es steht mir noch vor den Augen, wie die hohen grauen Felsenspitzen umher hell wurden. Da bewegte sich das Licht im Fenster, ich sah es die Treppe hinabgehen. Die Thür that sich auf, das Mädchen trat heraus, sah sich rechts und links vorsichtig um, und dann schritt Einer hinter ihr auf die Straße. Ja, er war es. Sie redeten noch zusammen, ich aber sprang hinter meinem Hollunder her in’s Gras und lief einen steilen Wiesenweg, wo ich jeden Schritt und Tritt kannte, den Berg hinan. Niemand konnte meine Fußtritte in dem gemähten Heu hören. Ich wußte die Stelle, wo er oben auf dem Berg durchkommen würde, um nach Hause auf’s Rittergut zu gehen.

Im Ahrthal, Aloys, ist’s nicht so eben und flach wie hier auf der Prairie; scharfe Felsgräte trennen die Thäler, über diese Gräte ziehen sich die Fußsteige von einer Ortschaft zur andern, unten im Thal geht die Fahrstraße. Da, wo ich hinauflief, steht oben auf der Schärfe des Grates ein hölzernes Kreuz; die Felsplatte läßt nur für ein paar Menschen Platz zwischen dem Kreuz und dem jähen Abhang daneben, wo unten dann die Weinberge vom Thal aufsteigen. Der Fels fällt wohl fünfzig Fuß jäh in diese Weinberge ab. Auf den Grat führen von beiden Seiten steile Felsenstege, die da und dort zu Treppen ausgehauen sind.

Als ich beim Kreuz anlangte, war es droben schon ziemlich hell. Ich hörte Fritz hinter mir langsamer hinaufsteigen, man konnte zuletzt jeden Fußtritt auf dem harten Gestein vernehmen. Er pfiff sich die Melodie des Liedes:

Geh Du nur immer hin,
Wo Du gewesen hast,
Und binde Deinen Gaul
An einen dürren Ast!

Das verdroß nach noch mehr. Hätte er gesungen oder in der Freude seines Herzens gejuchzt, das hätte mich weniger geärgert; aber daß er von der Anna kam und dann so leichtfertig pfiff und ein Schelmenlied pfiff, das machte mich wüthend. Jetzt kam er die letzten jähen Treppen herauf und sah mich auf einmal am Kreuz stehen. Er fuhr zusammen, hielt an und rief: ‚Wer da so früh?‘

‚Ich bin’s,‘ sagte ich, ‚und wer hier zu fragen hat, bin ich. Sage Du mir, wo Du herkommst zu dieser frühen Zeit?‘

‚Conrad?‘ sagte er. ‚Ich meinte, Du schwämmest schon den Rhein hinunter. Was willst Du noch hier?‘

‚Dich finden.‘ rief ich, ‚und Dich fragen will ich, was Du bei der Anna zu suchen hast!‘

‚Was geht Dich die Anna an?‘ fragte er spöttisch. ‚Hast Du doch das Feld bei ihr geräumt, und das war sehr weise von Dir, denn alle Bursche im Dorf wissen, daß sie Dich hat laufen lassen. Gieb Raum, ich habe mit Dir nichts zu schaffen.‘

‚Aber ich mit Dir, Du Bösewicht! Andere Mädchen hast Du unglücklich gemacht, die Anna sollst Du nicht unglücklich machen!‘

‚Aus dem Weg, Bauer!‘ sagte er. ‚Nimm Dich in Acht vor mir, ich nehme es mit Dreien von Dir auf.‘

‚Das wird sich finden, Du Polizeiknecht. Höre mich an, und wenn Du einen braven Blutstropfen im Leib hast, steh’ mir Rede. Ich will die Anna nicht, ich möchte sie auch gar nicht mehr, nun sie Dich Nachts in’s Haus gelassen hat, und wer weiß wie oft schon. Aber lieb habe ich sie gehabt, und leid thut sie mir noch. Sage mir als ein ehrlicher Kerl, willst Du sie heirathen?‘

‚Dummer Bauernbub,‘ rief er mir entgegen, ‚was hast Du mich in die Kinderlehr’ zu nehmen? Das Mädel ist mein jetzt, und was ich mit ihr anfange, geht Niemanden was an, als sie und mich. Mach’, daß Du fortkommst, oder Du sollst an mich glauben lernen.‘

Er schritt auf mich zu und packte mich an der Brust. Ich fühlte einen starken Stoß gegen die Stirn und taumelte nach dem Abgrund zu. Aber ich hielt auch ihn fest, und wir begannen zu ringen. Er war wohl stärker als ich, aber ich war rasend vor Zorn und Rachsucht. Ich faßte ihn beim Hals; er ließ mich von der Brust los, um nach meiner Hand zu greifen, die ihm den Athem zuschnürte. Da schwang ich ihn herum, und er flog über den Felsrand. Aber fallen hörte ich ihn nicht. Ich sprang an den Rand und sah, wie er sich mit Einer Hand an einem Büschel Gras hielt. Da faßte mich der Teufel: ich gab der Hand einen heftigen Fußtritt, und mit einem heisern Schrei rollte er den Abhang hinunter. Ich hörte ihn noch einmal auf den Fels aufschlagen, dann krachten tief unten ein paar Weinbergstangen. In der Einen Secunde war ich ein Mörder geworden und hatte zuvor nicht daran gedacht.“

Der Capitain hielt inne in Schmerz und Erschöpfung. Aloys ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Wein. Er schenkte ein Glas ein und sagte: „Trinkt und faßt Euch! Ihr braucht es.“

Der Capitain trank und schwieg lange. „Ich danke Dir,“ sagte er tonlos.

„Du mußt nun Alles hören,“ fuhr er fort. „Gott ist mein Zeuge, ich dachte in dem Augenblick nicht an mich! Ich sprang an dem jähen Felsen hinab, um ihm zu helfen, wenn es möglich wäre. Ich weiß heute noch nicht, wie ich hinunter gekommen bin; am folgenden Morgen hatte ich beide Hände inwendig voll eitriger Schrunden. Unten in den Reben war es noch dunkel, ich fand ihn nicht gleich, aber ich ließ nicht nach, bis ich ihn wohl fünfzehn Schritt vom Fuß des Felsens liegen sah: so weit war er im Schwung in den Weinberg hinabgestürzt. Ich befühlte ihn, er war schon todt. Es dämmerte jetzt auch hell genug, um Alles zu sehen. Er sah gräßlich aus. Die Hirnschale war hinten fort vom Schlag auf den Stein, und wie er herabkam, war er auf einen spitzen Weinpfahl gestürzt, der war ihm durch und durch gegangen und dann zerbrochen, das blutige Stück stak ihm noch im Leibe. Rundum war eine rothe Lache und das Blut tröpfelte noch aus Einer Ader auf die halbreifen Trauben und die gelben Weinblätter. Das Gesicht war verzerrt von Ingrimm und Todesnoth, und mit beiden Händen hatte er tief in die Schollen gegriffen und Erde gefaßt, als wollte er sie noch auf seinen Mörder schleudern. Aber in meinem Herzen schwand aller Haß, ich glaube, ich hätte in dem Augenblick gar mein eignes Leben hingegeben, wenn ich ihn hätte retten können.

Lange aber konnte ich den entsetzlichen Anblick nicht ertragen. Es wurde heller und heller um mich her, eine furchtbare Angst ergriff mich. Ich lief durch die Weinberge unten ins Thal, auf die große Straße – da stand ich, zweifelnd wohin. Ich konnte mich westlich in die Wälder schlagen, die belgische Grenze zu Fuß erreichen und dann mit der Eisenbahn nach Antwerpen fahren. Aber sicherer wandte ich den Verdacht ab, wenn ich mich noch in Köln bei den Bekannten zeigte, denn man wußte ja im Dorfe, daß ich über Köln reisen wollte. Also faßte ich mir Muth, eilte die Straße hinab, und wie es Tag wurde, schlug ich mich auf Waldwegen geradewegs an den Rhein. Dort traf ich das erste Dampfboot, das Morgens von Koblenz abgeht, und war fünf Stunden nach meiner That schon in Köln. Ich eilte gleich zu meinen Bekannten, sagte ihnen, daß ich die Nacht durch gewandert sei, und ging des Abends mit meinem Auswandererbillet auf der Eisenbahn nach Antwerpen ab. Die Weinberge waren damals schon wegen der Traubenhut gesperrt, Niemand betrat sie. Ich habe nachher erfahren, daß man die Leiche erst acht Tage später, als ich längst auf der See war, in den Reben gefunden hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 683. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_683.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)