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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Bestellung, ja oft trotz der ausdrücklichen Erklärung, daß man seine Waaren unter allen Umständen nicht brauchen könne, an den Hals zu werfen pflegt. An manchen Tagen findet eine förmliche Hetze unter den Herren Reisenden statt, so daß der Kaufmann, der von ihnen heimgesucht wird, froh ist, wenn die Sonne hinter die Berge steigt, um des überaus lästigen und zudringlichen Volkes endlich los zu werden. Aber siehe! Der gute Mann hat sich getäuscht: der geschäftliche Anstand ist bereits so weit abhanden gekommen, daß der am Tage bereits genug Geplagte auch noch „bei Licht“ heimgesucht wird. Das einzige, immerhin noch sehr zweifelhafte Auskunftsmittel besteht alsdann in dem freundlichen Bedauern der Frau Principalin: „Mein Mann ist verreist!“ wobei sie sich mit dem Rücken gegen die Glasthür stellt, die vom Laden in das Wohnzimmer oder das kleine Schreibstübchen führt, um die Ehehälfte gehörig zu decken. „Verfluchter Keeerl! schon wieder nich zu Hause! Na, den kriege ich schon noch!“ Und wie im Sturm, den todtmüden, mit Musterballen und Koffern schwerbeladenen Lohnbedienten oder „Burschen“ zur Seite, geht’s auf ein neues Opfer los.

Man hört nicht selten behaupten, es habe sich mit der Zeit viel Krankheitsstoff in dem Institute der Herren Reisenden – – doch wo gerathe ich hin! Wenn man weder Doctor der Philosophie, noch Doctor der Medicin ist, soll man von solchen Sachen nicht reden. Dabei fällt mir aber eine Geschichte ein, die, wenn sie auch wohl manchem unserer Leser schon bekannt, doch um so mehr werth, weil sie wahr ist.

Es war zur Zeit der Leipziger Michaelismesse, als der Chef eines reichen Leipziger Bankgeschäfts am späten Nachmittage einen Gang durch das Rosenthal machte. Bei der Umbiegung einer Ecke vernimmt er plötzlich eine menschliche Stimme, die in kurzen abgerissenen Sätzen und in wehmuthsvollem, fast schmerzlichem Tone ein Selbstgespräch hält. „Wie viel ließe sich verdienen! – Hätte ich meiner Frau gefolgt! – Die besten Werdauer (Tuche) um fünfundzwanzig Groschen, und der Jahrmarkt vor der Thür!“ – Als sich der Bankier näherte, gewahrte er einen schlichten, noch ziemlich jungen Mann am Wege sitzen, den er auf den ersten Blick für einen Meßfremden halten mußte, und welcher eben im Begriff war, seine aus Brod und Wurst bestehende Mahlzeit in ihren Ueberresten in Papier einzuwickeln und in die Rocktasche zu bergen. „Nur nicht gleich verzagen!“ rief der Bankier, der sich mit dem unterdessen aufgestandenen Fremden in ein Gespräch einließ, „vielleicht läßt sich Hülfe schaffen!“ – „Ach, da ist gar nicht d’ran zu denken!“ fiel ihm der Fremde in das Wort, „ich kenne hier Niemanden; ich hätte aber noch hundertfünfzig Thaler zusammenmachen können; meine Frau wollte es auch; aber wer konnte voraussehen, daß die Messe bei den jetzigen hohen Wollpreisen so günstig ausfallen würde! Und ganz bloß mag man sich auch nicht geben. Ich bin ein junger Anfänger und lasse auf drei Stühlen arbeiten und habe auch einen kleinen Laden. Aber in acht Tagen haben wir Jahrmarkt, wo ich achtzig bis neunzig Thaler lösen kann; ich hätte mir wieder helfen können! Nun ist’s zu spät.“ – „Vielleicht nicht,“ nahm der Bankier den Fremden bei der Hand, „kommen Sie morgen früh acht Uhr in die K.-Straße, Nr. …, da wird sich, denke ich, die Sache schon machen lassen.“

Am andern Morgen trat der Fremde wirklich in das Comptoir des ihm bezeichneten Hauses ein. Man richtete nur die Frage an ihn, woher er sei, wie er heiße und wo er logire, und bat ihn, ein wenig zu warten, bis Herr *** käme. Nach Verlauf von zehn Minuten erschien in der Thür des Nebenzimmers der Herr von gestern; er winkte dem Fremden, näher zu kommen, und richtete die Frage an ihn, wie viel er zu seinen weiteren Einkäufen noch nöthig habe.

„Hundert Thaler wären ausreichend!“ entgegnete der Gefragte.

„Hier, ich gebe Ihnen bis zur nächsten Messe ohne Zinsvergütung dreihundert Thaler. Machen Sie gute Geschäfte! Guten Morgen!“

Der Fremde, ein Herr F. aus G., jetzt Besitzer eines großen Geschäfts, kam noch oft zur Leipziger Messe und blieb ein schlichter einfacher Mann auch dann noch, als sich, seine Einkäufe nicht mehr nach Hunderten, sondern längst nach Tausenden von Thalern berechneten.

Das geschah zu jener Zeit, als die Krämer- und Handelsleute ihre Geschäftsreisen noch zu Fuße oder höchstens zu Pferde zurücklegten. Vor dem „Musterreiter“ lag der schwere Mantelsack auf dem kräftigen Gaule. Zu beiden Seiten des Sattels erblickte man geladene Pistolen zum Schutze des Reisenden und seines Geldes, das – in groben Münzsorten bestehend – in der lose um den Leib geschnallten oder auch in den Mantelsack eingewickelten Geldkatze geborgen war.

Auch die Handelsmessen wurden in früherer Zeit von den Geschäftsleuten meist zu Fuße besucht; denn die Postkutsche kam zu theuer, und die Omnibusse gehören erst der späteren Zeit an, in welcher Chausseen entstanden waren. Da sah man ganze Karawanen in angestrengten Märschen den Meßstädten zupilgern. Häufig mußte Nachts mit einer Streu vorlieb genommen werden, denn die Wirthshausbetten konnten die Menge der Meßreisenden nicht fassen. Zu dem an sich schon schweren Gepäck nahm man wohl auch noch so viel Proviant von zu Hause mit, als man bis zur Zurückkunft nöthig zu haben glaubte, weil man bestrebt war, die Reisekosten auf das geringste Maß zurückzuführen. Von jenen luxuriösen und theilweise theuren Meßgeschenken wie sie die Braut oder die Frau und selbst die Kinder des von der Messe heimkehrenden Kaufmanns in unseren Tagen erwarten, wußte man in früherer Zeit ebenfalls nichts. Da wurden oft nur drei oder vier Dreier aufgewandt, um vom Zuckerbäcker ein paar Schächtelchen zu kaufen. Und wie glücklich waren die Beschenkten, wenn sie sich im Besitze einiger Zuckerstückchen sahen, die in der oder jener Meßstadt – dem Wunderlande früherer Zeiten – eingekauft worden waren! –

Ein sehr altes und darum in gewisser Hinsicht fast ehrwürdiges Institut der alten deutschen Landstraße war jene ambulante Post, deren gesammtes Beamten- und Dienstpersonal mit Einschluß der Beförderungsmittel in einer „Botenfrau“ oder in einem „Botenmanne“ bestand. So viele Vorzüge unser heutiges Post- und Telegraphenwesen der früheren Zeit gegenüber auch haben mag, Eines hatte das Botenwesen – das übrigens hier und da von Magistratswegen geordnet war und noch ist – doch voraus: man konnte seine Nachrichten mündlich befördern, so daß man der Mühe des Schreibens überhoben war. Nur äußerst selten nahm eine solche Depesche im Gedächtniß der Botenfrau eine andere Gestalt an, geschweige denn daß eine mündlich mitgegebene Bestellung gänzlich verloren gegangen wäre, denn im äußersten Falle erschien sie dem Botenweibe gewiß wieder – im Traume. Dazu kam, daß die Botin wohl auch verstand, Miene und Ton Derjenigen nachzuahmen, welche ihr mündliche Nachrichten anvertraut hatten, und daß man noch tausend andere Fragen thun durfte, die von der Uebermittlerin einer Depesche gern und willig beantwortet wurden.

Kein Wunder, wenn sich zwischen den mit einander verkehrenden Familien und einzelnen Personen durch das Mittel der Botenfrau Vieles schneller und leichter in Ordnung bringen ließ, als heute durch kurze telegraphische Depeschen oder gar durch lange versiegelte Schreibebriefe, wie sie die Post verlangt. Selbstverständlich war die Botin ja auch eine Vertrauensperson der mit einander mündlich Correspondirenden, und noch heute muß ihr nachgerühmt werden, daß sie an Allem, was sie in den Familien ihrer Kundschaft vermittelte, und an diesen überhaupt den lebendigsten Antheil nahm. Da konnte man nöthigenfalls sein Herz ausschütten, wenn die Botenfrau endlich kam, und seine Neugierde stillen. Aber diese prosaischen Briefträger der Neuzeit, – die wissen nichts, und selbst wenn sie etwas wissen, wie benehmen sie sich! – „Lieber Briefträger! Wissen Sie nicht, wo – –“ „Nä, ich weeß gar nischt, ’n Morgen!“ Und im nächsten Augenblicke rennt er schon wieder unten auf der Straße weiter.

Es giebt deshalb auch jener Beschluß Mancherlei zu bedenken, wonach die Frauenzimmer von der Besorgung des Telegraphenwesens ausgeschlossen sein sollen. Als ob nicht Jahrhunderte lange Erfahrungen für die Verschwiegenheit, die Ehrlichkeit, die Pünktlichkeit, die Ordnung und geschäftliche Gewandtheit der Frauen in dem alten Institute der Botenweiber vor uns lägen! – Wenn Thurn und Taxissche Postgäule auch in Schnee- und Sturmwetter stecken blieben, das unverdrossene Botenweib – spät zwar kam sie, doch sie kam. Und was die Stärke des Gedächtnisses anlangte, so bin ich gewiß, daß heut zu Tage fünf Postbeamte alle fünf oder vielmehr sechs Sinne (den Postsinn eingeschlossen) zusammen nehmen müßten, um in dieser Hinsicht auch mit nur einem Botenweibe von ehemals einen Vergleich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_689.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)