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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Die erste Gefahr war überstanden. Auch nach St. Germain und Manut kam man ohne Aufenthalt. Hier kehrte man in einem Gasthofe ein. „Ich habe eine Dame bei mir,“ sagte Evans dem Hôtelier, „die ich nach einer Privatirrenanstalt bringen muß; bitte, sorgen Sie für ein Zimmer, das möglichst abgelegen ist und Läden vor den Fenstern hat.“

Sein Wunsch wurde gern erfüllt, und mit einem Gefühle wahrhafter Erleichterung nahmen die Kaiserin und ihre Gesellschafterin von dem also geschützten Gemache Besitz, während Evans mit dem ihn begleitenden Freunde ausging, um die nöthigen Vorkehrungen für die Weiterreise zu treffen. Seinen eigenen Wagen, den er bis hierher mitgenommen hatte, sandte er jetzt nach Paris zurück, um dafür ein Miethgefährt mit einem sorgsam ausgewählten Kutscher zu engagiren, der ihn nach einem gewissen Schlosse bringen sollte, welches, wie er sagte, einer der kranken Dame verwandten Familie gehöre.

Es ward nun weiter verabredet, die Kaiserin solle sich stellen, als widersetze sie sich der Weiterreise nach dem Schlosse, und unterwegs eine solche Aufregung und Widerspenstigkeit simuliren, daß man die gewählte Straße zu passender Zeit – den Moment würde der Doctor schon bestimmen – mit einer andern zu vertauschen genöthigt wäre. Gesagt, gethan. Kaum war man eine halbe Stunde unterwegs, so fing die Kaiserin einen heftigen Streit mit dem Arzte an, und der Zank zwischen der Geisteskranken und ihren Begleitern nahm schließlich so außerordentliche Dimensionen an, daß Evans dem Kutscher zurief, er möge halten, und die Patientin zu bewegen suchte, auszusteigen und eine Strecke zu Fuße zu gehen.

„Das thue ich nicht!“ brauste die Kaiserin auf und begann ein derartiges Geschrei zu erheben, daß die Pferde stutzten und der Kutscher erklärte, er könne nicht weiter fahren, wenn dem Lärm kein Ende gemacht würde. Von Neuem suchte Evans die Tobende zu beschwichtigen, doch vergeblich.

„Ich mag nicht nach dem Schlosse! Ich gehe nicht dahin!“ perorirte Eugenie, so daß dem Arzte nichts Anderes übrig blieb, als Kehrt machen und nach der nächsten Poststation fahren zu lassen, von wo man den Wagen zurückschickte.

Im Gasthof wurden ganz die nämlichen Vorsichtsmaßregeln ergriffen wie im vorhergehenden. Man miethete eine andere Kutsche, und nun erst schlug die Gesellschaft den Weg nach ihrem eigentlichen Ziele ein, nach Déauville, wo Frau Evans die Seebäder gebrauchte.

Auf jeder Station nahm man einen neuen Wagen und einen neuen Kutscher und sandte die alten zurück. Zweimal entging man nur durch ein Wunder den spionirenden Nationalgarden, allein Eugenie war glücklicher auf ihrer Flucht, als achtzig Jahre früher Marie Antoinette mit den Ihrigen. Sie wurde nirgends erkannt, und nach zwei endlosen Tagen voller Angst und Beschwerde langte man todmüde und in Aussicht auf noch manche zu überwindende Schwierigkeit, doch bis dahin wohlbehalten in Déauville bei Madame Evans an, wo die Damen sich einige Tage Ruhe gönnen durften, die, wie sich denken läßt, ihnen sehr noth that. Währenddem erkundigte sich ihr getreuer Paladin nach den vorhandenen Schiffsgelegenheiten, deren man sich etwa zur Fahrt über den Canal bedienen könnte.

Im Hafen ankerten zwei Privatyachten. Evans ging zunächst an Bord der größeren, ihr Eigenthümer war indeß abwesend. Die zweite hieß die Gazelle und gehörte einem englischen Baronet, dem General Sir John Burgoyne. Der Doctor trug demselben sein Anliegen vor und bat inständig, der Kaiserin und deren Gesellschafterin Passage geben zu wollen. Allein Burgoyne weigerte sich zuerst auf das Bestimmteste, seinerseits in irgend einer Weise etwas mit der Sache zu thun haben zu wollen, um sich nicht etwa nachher politischen Erörterungen auszusetzen. Evans aber ließ sich so leichten Kaufs nicht abweisen. Auf das Beweglichste stellte er dem alten Soldaten die angstvolle Lage der Flüchtigen vor und beschwor ihn, das Ganze nicht als politische That, sondern lediglich als einen Act der Menschenfreundlichkeit auffassen zu wollen, auf die ja auch die Kaiserin wohl einen Anspruch machen dürfe. Endlich willigte Sir John ein; nur die Bedingung stellte er, daß die Damen erst unmittelbar vor der Abfahrt des Schiffes an Bord kommen sollten, damit jeder gefährliche Aufenthalt vermieden würde, welcher unfehlbar eintreten müßte, wenn sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die plötzlich erscheinenden beiden Passagiere lenkte.

Wohl lagen die Gefahren zu Lande jetzt hinter unseren Flüchtlingen; die Gefahren zur See aber standen noch bevor. Ein furchtbarer Sturm erhob sich, der entsetzlichste und verheerendste, den der Canal seit langer Zeit gesehen hatte. Es war dasselbe Unwetter, in welchem das neue schöne Schiff, „der Captain“, mit seinem Befehlshaber und aller seiner Mannschaft zu Grunde ging – eine Katastrophe, die das Herz Englands mit größerer Trauer erfüllte, als wenn eine Schlacht verloren worden wäre, und durch Wochen ein stereotypes Klagelied in allen britischen Blättern veranlaßte. Und merkwürdiges Zusammentreffen! Der Capitain des unglücklichen Schiffes war der Sohn des ehrwürdigen alten Generals, in dessen Yacht Eugenie nach England herüber segelte!

Die kleine „Gazelle“ hielt sich wacker, allein die Gefahr war grausig. Die Damen wurden wild umhergeworfen in ihren engen Kojen und mußten bis an’s Ende der Reise darin aushalten. Um Mitternacht schien alle Hoffnung auf Rettung geschwunden zu sein; schon machte sich Alles auf den demnächstigen Untergang gefaßt. Wäre Eugenie durch die heftige Seekrankheit nicht momentan ihres Denkens und Empfindens beraubt gewesen, – welche Betrachtungen würden ihre Seele bewegt haben!

Der Sturm aber, dem der mächtige „Captain“ erlag – er verschonte die winzige „Gazelle“. Ihre Rettung streifte an das Wunderbare; wenigstens ist selten ein Fahrzeug aus ähnlichen Gefahren gleich unversehrt hervorgegangen. Donnerstags am 8. September Nachmittags gegen drei Uhr lief man glücklich im Hafen von Ryde auf der Insel Wight ein.

Noch am selben Tage wandte sich die Gesellschaft nach Brighton. Hier erfuhr Evans, daß Prinz Louis sich in Hastings befand, und dahin reiste Eugenie auf der Stelle ab. Mehrere Tage lang hatten Mutter und Kind nichts von einander gewußt. Wer, der ein menschliches Herz in der Brust trägt, müßte sich nicht im Innersten seiner Seele ergriffen fühlen bei der Vergegenwärtigung eines solchen Wiedersehens nach Begebnissen, die nicht nur allen Glanz und Stolz der Beiden in Stücken gebrochen und hinweggefegt, die auch das ganze Kaiserreich zertrümmert hatten!

Der unermüdliche Evans war es auch, welcher das Asyl ausfindig machte, in dem bis vor Kurzem Exkaiser und Exkaiserin (letztere ist bekanntlich vor Kurzem nach Spanien gereist) das Leben der Verschollenen gemeinsam führten; er miethete für die Entthronten das schöne Camden House in Chiselhurst und kehrte nicht eher nach Frankreich zurück, als bis er seinen Schützling dort glücklich geborgen wußte. –

Ob Eugenie ihren aufopferungsvollen Ritter kaiserlich gelohnt hat, darüber erzählt der Amerikaner, dessen jetzt in New-York erschienenen „Erinnerungen“ wir diese Mittheilungen entnehmen, nichts. Vielleicht hat sie ihren Retter mit einer – Photographie beglückt, die den erhabenen Moment darstellt, in welchem Lulu auf dem Schlachtfelde bei Saarbrücken die Feuertaufe empfängt?




Blätter und Blüthen.


Neu-Deutschland im Orient. Bekanntlich war bis vor Kurzem unsere deutsche Vertretung in fernen Ländern die allerkläglichste, der Schutz, dessen sich unsere Nation, namentlich im Orient, zu erfreuen hatte, glich Null, tausend Rücksichten nach innen und außen traten jedem energischen Versuch zur eigenen Werthfühlung hemmend entgegen. Die General-Consuln und die Unterthanen der vielköpfigen deutschen Regierungen mußten sich ducken, nachgeben und schweigen, selbst wenn das Recht schreiend auf ihrer Seite war. Im Gegensatz zu dieser unglaublichen Mißachtung hob französische Anmaßung dictatorisch in jeglicher Willkür das Haupt; in jede Forderung, war selbe auch noch so rechtslos und aus der Luft gegriffen, wurde eingewilligt aus Scheu vor der „Grande Nation“, die ja nicht einmal den Schein eines Rechtes bedurfte, um blutig einzugreifen in die Geschicke friedlicher Nationen. In Aegypten nahm dieser französische Einfluß noch grellere Gestalt und Farbe an, als sonst irgendwo im Orient. Bei allen guten Eigenschaften, bei aller Klugheit des Vicekönigs ist derselbe von der ausgesprochensten Vorliebe für Franzosen und Franzosenthum befangen. Die Sprache derselben ist das einzige fremde Idiom, das er versteht, ihre Literatur die, welche er kennt. Alle Handelsverbindungen von Aegypten wurzeln in Frankreich, die Personen der nächsten Umgebung des Herrschers sind fast alle Franzosen. Besteht ein Theil derselben, wie zum Beispiel der Leibarzt des Khedive, und Barrot-Bey, dessen vertrauter Secretär, und noch ein Bruchtheil, auch aus ehrenhaften, braven

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_727.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)