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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Meine Großmutter war ja auch eine Jüdin,“ sagte ich unbefangen.

Die regelmäßigen Schritte im Hintergrund des Glashauses stockten plötzlich, und auch am Theetisch blieb es einen Augenblick todtenstill. Ich saß so, daß ich durch die Glasscheiben einen Theil des Gartens übersehen konnte. Der Mond war heraufgekommen; aber er stand noch hinter einem Wolkengebirge, dessen zackige Ausläufer er silbern besäumte. Ueber den weiten Plan webte ein falbes, unbestimmtes Licht, das die Linien der Gegenstände gespenstig verzerrte – das weiße Lilienfeld, wenn auch tief im Hintergrunde und zum Theil unter den Flußuferbäumen liegend, schien den spärlichen Mondenglanz in sich allein aufzufangen – es leuchtete hell zu mir herüber, und ich mußte wieder, gleich vorhin unter kalten Schauern und Herzweh, an meine arme Großmutter denken, wie sie unter den Eichen hingestreckt lag. … Es wurde Alles wieder wach in mir, was ich in jenen grauenhaften Nachtstunden erfahren und gelitten. Die wenigen, stets furchterregenden Berührungspunkte zwischen der geistesgestörten Frau und mir, lange Jahre hindurch, dann das plötzliche Hervorbrechen der großmütterlichen Liebe in der Sterbestunde, meine Angst bei der Wahrnehmung, daß der Tod wirklich an das ebengewonnene Herz herantrete, das Alles stieg überwältigend vor mir auf, und so, wie es kam, sprach ich’s aus. Ich berührte auch den furchtbaren Auftritt zwischen meiner Großmutter und dem alten Pfarrer – wie sie den geistlichen Beistand zurückgewiesen und als Jüdin gestorben sei, und wie mild versöhnlich der Pfarrer dabei gewesen. – Da plötzlich, während Alle in tiefer Stille zuhörten, kreischte der Kies unter heftigen, starken Schritten, und der Buchhalter, den ich längst daheim in der Karolinenlust wähnte, stand vor mir.

„Der Mann war ein Schwachkopf!“ schalt er mit förmlich donnernder Stimme. „Er durfte nicht von dem Bett weichen, bis er die widerspenstige Seele wieder in seiner Hand hatte. Er mußte sie zwingen, umzukehren – der Priester hat Mittel genug, die Abtrünnigen aufzurütteln, wenn sie frechen Muthes der Hölle zutaumeln wollen –“

Ich sprang auf. Der Gedanke, daß eine Stimme, wie diese, rücksichtslos in den Todeskampf eines Menschen hineinstürmen und die Qualen der ringenden Seele verlängern dürfte, regte mich furchtbar auf.

„O, das hätte er nicht wagen dürfen! Wir hätten es nicht geduldet, Ilse und ich – ganz gewiß nicht! … Ich leide es auch jetzt nicht, daß Sie nur noch ein Wort über meine arme Großmutter sagen!“ rief ich.

Fräulein Fliedner hatte sich rasch erhoben – sie legte beschwichtigend beide Arme um mich und sah ängstlich nach der Felsengruppe hinüber; dort klangen die Schritte wieder – sie näherten sich rasch dem Theetisch.

„Haben Sie das Alles auch der Prinzessin erzählt, Fräulein v. Sassen?“ fragte Dagobert schnell – er schob mit dieser Frage weiteren Erörterungen einen Riegel vor und bewirkte, daß die Schritte augenblicklich verstummten.

Ich schüttelte schweigend den Kopf.

„Nun dann – wenn ich Ihnen rathen darf – schweigen Sie auch künftig darüber.“

„Aber aus welchem Grunde denn?“ fragte Fräulein Fliedner.

„Das können Sie sich doch denken, liebste Fliedner,“ versetzte er achselzuckend, fast unwillig. „Es ist bekannt genug, daß der Herzog den Juden nicht hold ist, weil ihn sein ehemaliger Hofagent, Hirschfeld, fabelhaft beschwindelt hat und schließlich durchgebrannt ist. Weiter – und das ist die Hauptsache – gilt der Name v. Sassen am Hofe als ein seit Jahrhunderten völlig unbefleckter. Für Seine Hoheit giebt allerdings die Gelehrsamkeit des Herrn v. Sassen den Ausschlag – anders dagegen ist’s mit der Umgebung – ihr imponirt sicher nur das hohe Alter und die Reinheit des Stammbaumes; solch eine kleine Ausplauderei seitens der jungen Dame könnte mithin der brillanten Aufnahme des Herrn Doctors, wie auch ihrer eigenen, einen empfindlichen Stoß versetzen, und das wird sie sicher nicht wollen.“

Ich schwieg, weil mir die ganze Rede nicht klar war; ich begriff durchaus nicht, wie es meinem Vater schaden könne, daß seine Mutter eine Jüdin gewesen, denn mir fehlte ja der Begriff von jener sogenannten Weltordnung beinahe vollständig. Es war aber auch gar nicht der geeignete Moment, darüber nachzudenken – noch zitterte ich in der Nachwirkung des Schreckens, den mir das plötzliche Hervortreten des fürchterlichen alten Mannes verursacht hatte. Und er stand ja noch mit verschränkten Armen mir gegenüber, und seine Augen glühten unter den weißen Brauen hervor, als wollten sie mich verbrennen. Ich empfand zum ersten Mal in meinem Leben, daß ich gehaßt wurde – eine Erfahrung, die eine junge Seele so schwer begreift –; die Luft, die ich mit meinem Feinde zugleich athmete, drohte mich zu ersticken; der Aufenthalt im Glashause wurde mir unerträglich.

„Ich will heimgehen – Ilse wartet,“ sagte ich – mit einer energischen Bewegung befreite ich mich aus Fräulein Fliedner’s Armen und griff nach meinem Hute, während meine Augen mit fieberndem Verlangen in den kühlen, weiten Garten hinausstrebten.

„Na, da kommen Sie,“ meinte Charlotte aufstehend. „Ei, der Tausend, ich sehe an Ihrem Blick, daß wir Sie nicht halten dürfen! – Sie wären im Stande und zerschlügen uns die Scheiben wie der wilde Darling –“

„Darling hat heute Abend seinen Herrn abgeworfen und mit den Hufen zerschlagen,“ sagte ich.

Dagobert fuhr empor. „Wie, Arthur Tressel? Den famosen Reiter? Unmöglich!“ rief er.

„Ah bah, ein schöner Reiter das! Der Mensch hätte auch weiser gethan, daheim auf seinem Comptoirstuhle sitzen zu bleiben,“ warf Charlotte mit scheinbarem Phlegma hin; aber unter ihren verächtlich zugekniffenen Lidern hervor flammte ein Blick voll Aerger – er glitt verstohlen durch den Hintergrund des Glashauses. „Hat er sich sehr wehe gethan, der arme Junge?“

„Herr von Wismar sagte zu der Prinzessin, das sei robustes Blut und eine ganz andere Knochenmasse – das sei nicht leicht umzubringen.“

Vom Felsen herüber klang ein leises Auflachen – ich glaube, der plötzliche unterirdische Stoß eines Erdbebens hätte keine größere Wirkung auf die Geschwister üben können als meine achtlos gegebene Antwort und jenes schnell verklingende, kaum hörbare Auflachen. Was hatte ich armes, erschrockenes Geschöpf denn verbrochen, daß Dagobert’s Augen mich so zornig ansprühten? … Es sah aus, als wolle Charlotte im ersten jähen Aufbrausen einen Zornruf hinter die Felsengruppe schleudern, aber sie überwand sich und schwieg, während sie den Kopf stolz zurückwarf.

„Kommen Sie, Kleine – geben Sie Fräulein Fliedner ein Patschhändchen und sagen ihr gute Nacht – es wird Zeit, daß man Sie zu Bett bringt!“ sagte sie zu mir.

In jedem andern Moment würde diese Aufforderung meine siebenzehnjährige Würde tief gekränkt haben – diesmal jedoch verzieh ich Charlotten sofort; denn der Mund, der sich zum Humor zwang, erschien völlig farblos – das stolze Mädchen war tief verletzt worden, das sah ich wohl, wenn ich auch nicht begriff, durch was.

Sie durchschritt anscheinend ruhig und schweigsam an meiner Seite das Glashaus und den vordern Theil des Gartens; kaum aber hatten wir die Brücke hinter uns, als sie stehen blieb und unter einem tiefen, schweren Aufathmen beide Hände auf die Brust preßte.

„Haben Sie gehört, wie er lachte?“ fragte sie mit ausbrechendem Grimm.

„Es war Herr Claudius?“

„Ja, Kind. … Wenn Sie erst länger mit uns zusammengelebt haben, dann werden Sie wissen, daß dieser große, überlegene Geist nie laut lacht, es sei denn über die Schwächen der Menschheit wie vor wenig Augenblicken. … Kleine, mit dem Auskramen Dessen, was Sie bei Hofe hören und erleben, müssen Sie in Anwesenheit des Onkels künftig vorsichtiger sein.“

Ich war empört. Man hatte mich gezwungen, zu erzählen, und ich war in der That, für meine wenig geschulte, offene Natur, sehr vorsichtig gewesen; nicht ein Wort von Dem, was man bei Hofe über Dagobert gesprochen, war über meine Lippen gekommen.

„Warum zanken Sie denn?“ fragte ich trotzig. „Soll ich nicht einmal sagen, daß man den gestürzten Reiter am Hofe für stark und kräftig hält?“

O sancta simplicitas!“ rief Charlotte spöttisch auflachend. „Arthur Tressel ist zart und zierlich – ein Bürschchen von Marzipan. … Die Bezeichnung des geistvollen Herrn von Wismar

gilt dem gesammten biderben Bürgerstand. Ein Cavalier hätte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_746.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)