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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

seine feinen, ganz besonders construirten Rippen bei dem Sturz jedenfalls zerbrochen und seine edle Seele in den Himmel zurückgehaucht, das robuste Bürgerblut aber hat viel zu viel von der groben, derben Erde in sich, es bleibt an ihr kleben und thut sich nicht so leicht weh.“

Sie lachte abermals auf, ging hastigen Schrittes weiter und trat mit mir heraus auf das Parterre der Karolinenlust.

Der Mond stand jetzt vollständig entschleiert über dem Schlößchen. Auf der verschwiegenen, dem Waldesdunkel abgerungenen Oase wirkte das hereinfallende weiße Licht ebenso berauschend auf meine Nerven wie der starke Blumenduft im Vordergarten. Es ließ die steinerne Diana drüben unter der Blutbuchengruppe so erschreckend lebendig hervortreten, daß man meinte, der lauernde Pfeil auf dem gespannten Bogen müsse plötzlich die Lüfte durchschwirren – es floß um die Blumen- und Fruchtfestons der Mauern, über die starren Augen und festgeschlossenen Lippen der lasttragenden Karyatiden und schwamm auf dem Spiegel des Teiches, auf den ungeheuren Glasflächen der Fenster. Ich konnte jede einzelne Falte der verblichenen Seidendraperien hinter den Balconglasthüren erkennen – jetzt lief der Mond mit silbernen Sohlen durch die geheimnißvollen Zimmer; – da schwankte die Ampel drunten an der Decke des grimmigen Fanatikers freilich nicht.

„Der da oben hätte mich und meinen Bruder verstanden,“ sagte Charlotte und zeigte nach der Beletage. „Er hat den Staub und Schmutz der Krämersippe mit starker Hand abgeworfen und ist keck hinaufgestiegen in die Sphäre, die ihm einzig und allein den Lebensathem geben konnte.“ Sie sah unverwandt auf die glitzernden Scheiben und zuckte die Achseln. „Er ist freilich mit zerschmettertem Kopf herabgestürzt – aber was thut’s? Er hat doch die hochmüthige Kaste gezwungen, ihn anzuerkennen, er ist Ihresgleichen geworden und hat seinen glänzenden Weg über den Boden gemacht, den sie mit rasender Eifersucht als den ihrigen reclamiren. Es ist schließlich völlig gleichbedeutend, ob dieser Weg durch zehn oder fünfzig Jahre hindurchgelaufen ist. Ich stürbe gern jung, wenn ich nur zwölf Monate Leben auf der Höhe damit erkaufen könnte! … Ich habe es durchgekostet, was es heißt, seine halbe Jugend mit stolz ehrgeizigem Herzen und einem verpönten, plebejischen Namen unter naserümpfenden, adeligen Pensionairinnen zu verbringen – ich will nicht immer unten stehen – ich will nicht!“

Sie fuhr mit der geballten Hand energisch durch die Luft und schritt unter fliegenden Athemzügen rasch auf und ab.

„Onkel Erich kennt diese verborgene Gluth in meinem Herzen – Dagobert denkt und fühlt und leidet genau so wie ich“ – sagte sie stehenbleibend weiter – „und mit dem ganzen Spießbürgerhochmuth seines Standes sucht er sie zu ersticken. … Wir sollen die Stütze unserer Würde in uns selbst suchen, nicht in äußeren Zufälligkeiten, sagt der große Philosoph – lächerlich! Das stachelt mich erst recht auf; ich fühle mich an einen Marterpfahl gebunden, ich knirsche in den Zaum und verwünsche die Bosheit des Schicksals, die junge Adler in ein Krähennest getragen hat! … Woher diese unbesiegbaren Empfindungen?“ frug sie langsam weiterschreitend. „Sie sind da, so lange ich athme, sie müssen in dem Blut begründet sein, das mich durchströmt. … Es ist keine Chimäre, das Wort von dem aristokratischen Bewußtsein – es mögen sich wohl Fäden fortspinnen von Geschlecht zu Geschlecht, die uns unbewußt mit vergangener Größe zusammenknüpfen, wenn sie auch äußerlich nicht mehr wahrnehmbar sind, wie bei uns Geschwistern zum Beispiel, über deren eigentlicher Abkunft tödtliches Schweigen, undurchdringliches Dunkel liegen –“

Diese leidenschaftlich herausgestoßenen Klagen erloschen plötzlich mit den letzten Worten in einer Art von Stammeln – in der Mündung des einen Bosquetweges, an der wir eben vorüberkamen, stand Herr Claudius und sah das aufgeregte Mädchen mit ruhigen, ernsten Augen an.

„Einmal soll dieses Dunkel gelüftet werden, Charlotte, ich verspreche es Dir,“ sagte er so gelassen, als sei der heftige Ausbruch an ihn direct gerichtet gewesen, und er antworte einfach darauf. „Aber dann erst sollst Du die Wahrheit erfahren, wenn Du sie ertragen kannst, wenn das Leben und ich –“ er zeigte gebieterisch auf sich selbst – „Dich vernünftiger gemacht haben werden. … Jetzt gehe vor in das Haus, Dörte mag Dir ein Glas Zuckerwasser einrühren. … Und noch Eines: Ich verbiete Dir hiermit streng für die Zukunft derartige Mondscheinpromenaden in Fräulein von Sassen’s Gesellschaft, der Größenwahn ist ansteckend, Du wirst mich verstehen.“

Seltsam, das Mädchen mit dem starken Geist fand nicht ein Wort der Erwiderung; die Ueberraschung mochte sie wohl für einen Augenblick gelähmt und widerstandslos gemacht haben. Den Kopf trotzig zurückwerfend, preßte sie meine Hand so heftig, daß ich hätte aufschreien mögen, schleuderte sie dann ungestüm von sich und rauschte in das Bosquet hinein.

Ich war mit ihm allein – Angst und Beklommenheit überschlichen mein Herz; aber ich wollte ihm nicht zeigen, daß ich mich fürchte – nun gerade nicht! Der starke Goliath hatte einen Augenblick den Kopf verloren und sich in die Flucht schlagen lassen – da hielt sich der kleine David tapferer. … Ich schritt, für meine flinken Füße viel zu langsam, nach der Karolinenlust, und er ging schweigend neben mir her. … Die Halle war stark beleuchtet; auch in dem Corridor, der hinter meinem Zimmer hinlief, brannten auf Herrn Claudius’ Befehl allabendlich zwei Lampen. Vor diesem Corridor, auf dessen Stufen ich schon meinen Fuß setzte, blieb er stehen.

„Sie sind heute Nachmittag im Groll von mir gegangen,“ sagte er. „Geben Sie mir eine Hand, ich möchte doch lieber nicht so schlimme Erfahrungen machen, wie Heinz mit dem bösen Raben.“

Er streckte mir die Hand hin. Durch ein rubinrothes Glas in der Corridorthür warf das Lampenlicht einen rothflüssigen Schein über die weißen Finger, und von dem Brillantring zuckten grelle Blitze auf – ich schauderte.

„Sie ist voll Blut!“ schrie ich entsetzt auf und stieß nach der Hand.

Er wich zurück und sah mich an – bis an mein Ende werde ich den vergehenden Blick nicht vergessen, der den meinen traf – noch nie hatte mich ein Menschenauge so angesehen, nie! … Er wandte sich und verließ, ohne daß auch nur ein Laut über seine Lippen gekommen wäre, das Haus.

Ich fuhr unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen, als hätte ich den Dolchstich zurückempfangen – wie das schmerzte! Es war Reue, tiefe Reue! … Ich stürmte die Stufen hinab, in’s Freie hinaus – ich wollte ihm die Hand geben, die er verlangt hatte, und ihn bitten, nicht böse zu sein. Aber der Kiesplatz war leer, ich hörte auch keine Schritte sich entfernen – Herr Claudius mußte den weichen Waldboden betreten haben.

Tief niedergeschlagen trat ich endlich bei Ilse ein. Ihre stets wachen und hellen Augen bemerkten sofort, daß Tropfen an meinen Wimpern hingen, und ich sagte ihr, daran sei nur das abscheuliche, blutrote Glas der Corridorthür schuld, für die es auch besser gewesen sei, wenn Darling sie zertreten, statt der Scheiben im Glashause.



22.

Auf diesen Abend folgten mehrere Tage voll Sorge, die ich zum ersten Mal in meinem Leben durchmachen mußte – die Sorge um einen kranken Vater. Er litt an so entsetzlichen Kopfschmerzen, daß er drei Tage lang nicht in seine geliebte Bibliothek hinaufsteigen konnte. … Die wilde Hummel, die bei sonnigem Wetter nicht eine halbe Stunde lang in der Dierkhofstube ausgehalten hatte, saß jetzt von früh bis spät im verdunkelten Zimmer, lautlos zu Füßen des Leidenden und lauschte ängstlich auf jede Bewegung, jeden Laut seines Mundes. Die Sehnsucht nach dem glänzenden Augusthimmel draußen trat auch nicht einmal an mich heran – es flogen ja auch Sonnenblicke durch das dunkle Zimmer, und das war, wenn ich mich auf den Bettrand setzen und abwechselnd eine meiner kühlen Hände auf die glühende Stirn des Kranken legen durfte, wenn er schwachlächelnd Ilse zuflüsterte, er habe es gar nicht geahnt, welch ein Segen es sei, ein Kind zu haben, seit dem Tode meiner Mutter sei er bei der jedesmaligen Wiederkehr seines alten Uebels – er litt periodisch an diesen Gehirnschmerzen – stets doppelt verlassen und krank gewesen, weil er keine pflegende Hand, kein Auge voll zärtlicher Besorgniß um sich gehabt habe; er beklage nunmehr jedes Jahr der Trennung zwischen Vater und Tochter in bitterer Reue als einen großen Verlust.

Der Leibarzt des Herzogs besuchte meinen Vater sehr oft.

Vom Hofe kam täglich zweimal ein Lakai, um sich nach dem Befinden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_747.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)