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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

des Kranken zu erkundigen und Erfrischungen zu bringen, und Ilse hatte „alle Hände voll zu thun“, um die besorgten Nachfragen aus allen Theilen der Residenz zu beantworten. Auch im Vorderhaus zeigte man große Theilnahme. Fräulein Fliedner kam jeden Morgen selbst, um nachzusehen, und stellte alle dienstbaren Geister des Hauses zu unsrer Verfügung. … Charlotte war auch einmal Abends auf eine halbe Stunde bei mir, um „die Kleine“ in ihrer Trübseligkeit ein wenig zu trösten. Mir schien es aber, als bedürfe sie der Erheiterung von außen her weit mehr als ich. Es lag etwas wie ein finsteres Brüten über den starken, dunklen Brauen, und die stolznachlässige Sicherheit in ihren Geberden hatten einer nervösen Beweglichkeit Platz gemacht. Das Zusammentreffen mit ihrem Onkel am Bosquet erwähnte sie mit keinem Wort; dagegen erzählte sie mir, daß es augenblicklich gewitterhaft schwül im Vorderhaus sei. Herr Claudius führe seinen Entschluß, Haus und Geschäft von dem eingeschlichenen Muckerthum zu säubern, mit äußerster Consequenz durch. Er habe die bereits eingezahlten Missionsbeiträge der Arbeiter großmüthig in den Händen des Buchhalters belassen, die gleiche Summe aus eigenen Mitteln aber als Fond in eine von ihm neugestiftete Casse niedergelegt, welche den Zweck habe, die Realschulbildung für die Arbeitersöhne zu ermöglichen und die Ausstattungskosten für die Töchter der Aermeren zu erleichtern. Die Tractätchen seien korbweise fortgeschafft worden, und dem jungen Commis, der aus Liebedienerei weit über seine Kräfte zu der Missionscasse beigesteuert und sich mit großem Erfolg der Augenverdrehung beflissen habe, sei eine eclatante Rüge und die Androhung zu Theil geworden, daß ein Rückfall in die widerwärtige Heuchelei seine sofortige Entlassung zur Folge haben werde, der Buchhalter gehe natürlich mit einem in Grimm erstarrten Gesicht herum – das wußte ich bereits, durch den Spalt einer Jalousie hatte ich ihn mehrmals in Begleitung der Geschwister den Teich umschreiten sehen. Das Band zwischen diesen drei Menschen schien durch die neuen Ereignisse ein noch engeres geworden zu sein, – dafür sprachen die gemeinsamen Spaziergänge im Walde.

So oft Charlotte Herrn Claudias erwähnte, fühlte ich zwar noch einen leisen Stich durch mein Inneres gehen; allein die Qual der Reue und des Selbstvorwurfs hatte bedeutend nachgelassen, seit ich mir entrüstet sagte, daß die Krankheit meines Vaters ihren Grund in der Aufregung wegen des vereitelten Münzenankaufs habe – die ausgezeichnete haarscharfe Logik meines siehenzehnjährigen Mädchenkopfes erkannte schließlich dem hartherzigen Verweigerer der Mittel die ganze Schuld zu, und – da waren wir ja quitt! –

Nun aber waren die schlimmen Tage vorüber. Die Fenster des Krankenzimmers standen weit offen, Luft und Sonne zogen wieder ein, und Ilse fegte und stäubte ab, als sei die ganze Streubüchse der Wüste drin ausgeschüttet worden. Ich hatte meinen Vater zum ersten Male wieder in die Bibliothek begleitet, ihm droben den Nachmittagskaffee auf der Maschine gekocht, die grünen Wollvorhänge halb zugezogen, wie er’s liebte, und um seine Füße eine wattirte Decke geschlagen. Ich wußte ihn versorgt und stillglücklich in der Wiederaufnahme seiner Arbeiten, und flog nun wie ein Pfeil hinaus in den Garten. Jetzt wußte ich den köstlichen Waldodem, das labende Düster unter den tausendfach verschlungenen Aesten bereits besser zu schätzen. Die Sonne hing als greller Gluthball über dem Garten – es sah aus, als wolle sie gierig das ganze blaue Wasser des Teiches austrinken – matt und träge lag dieses in seinem Steinring.

Ich schlug den Weg ein, den ich seit Sonntag nicht wieder betreten hatte, und drang in das Dickicht – richtig, da stand Gretchens Korbwagen noch mit den halb zerschmolzenen, halb verdorrten Erdbeeren – Niemand hatte ihn zurückverlangt – möglich, daß der alte Gärtner Schäfer ihn gesucht und nicht gefunden hatte. … Wie dauerte mich das arme Kind, das jedenfalls nach seinem verlorenen Spielzeug jammerte! Die Eltern waren ja arm, so arm, daß die Mutter das Blut der Arbeit an den Händen hatte – sie konnten der Kleinen den Verlust vielleicht nicht ersetzen.

Obgleich mir Herr Claudius neulich, wenn auch ohne ein Wort der Zurechtweisung, so doch sehr ausdrucksvoll für alle Zeit den Ausgang verlegt, indem er vor meinen Augen den Schlüssel abgezogen und in die Tasche gesteckt hatte, lief ich doch nach der Gartenthür – siehe da, ein neues Schloß blinkte mir entgegen, ein festes starkes Schloß ohne Schlüssel, auch die Bänder und Riegel waren neu – tausend noch einmal, man mußte gehörigen Respect vor der gewaltthätigen Mädchenhand haben, daß man die Thür dergestalt in Eisen gelegt hatte!

Ich kletterte auf die Ulme, das war heute ein ziemlich saures Stück Arbeit. Ich hatte die sogenannten Spitzen an den Füßen und war damit in die Haideschuhe geschlüpft – um eine ganze Welt waren sie mir zu weit und machten alle Augenblicke Anstalt, mich treulos zu verlassen und hinunter in’s Dickicht zu fliegen. –

Endlich saß ich glücklich droben im Wipfel der Ulme. Auf dem Balcon des Schweizerhäuschens, von dem wilden Wein kühl beschattet, stand ein Kinderwagen – Hermännchen lag drin auf weißem Kissen, sehr faul und jedenfalls sehr satt. Neben ihm stand Gretchen und biß herzhaft in ein großes Butterbrod, dazwischen hinein mit dem Brüderlein plaudernd; drin im Zimmer aber sah ich die Mama, wie sie bügelte und alle Augenblicke mit erhitztem Gesicht in die Thür trat, um nach den Kinderchen zu sehen.

Wer hätte gedacht, daß durch das liebliche sanfte Frauenantlitz dort solch ein Sturm gehen könne, wie ich ihn am Sonntagmorgen gesehen! In diesem Moment war davon auch nicht die geringste Spur mehr in den lächelnden Zügen zu finden, so wenig, wie Gretchen über ihren verlorenen Wagen jammerte. Aber das Kind sollte ihn wieder haben, und zwar sofort, ich wollte ihn mit frischgepflückten Erdbeeren und Waldblumen füllen und den alten Gärtner Schäfer bitten, ihn nach Hause zu tragen. Ich verließ den Wipfel und glitt von Ast zu Ast hinab – da kamen Menschen von der Karolinenlust her; sie mußten mir schon sehr nahe sein – erschrocken fuhr ich zusammen vor der Stimme des Buchhalters, die zu mir heraufscholl, als stehe er bereits unten zu Füßen der Ulme. Den höchsten Wipfel erreichte ich nicht mehr, ohne daß das Geräusch des erschwerten Kletterns hinabgedrungen wäre. Still hoffend, daß das Ungewitter rasch vorüberziehen werde, schlang ich meine Arme um den Baumstamm, denn ich saß auf einem sehr dünnen schwanken Ast, und lauschte mit klopfendem Herzen hinab.

Was ich zuerst durch das Blättergewebe sah, war Charlottens purpurfarbene Sammetschleife, die sie meist über der Stirn trug – wo Charlotte, da war auch Dagobert; die Geschwister flüchteten wieder einmal aus dem gewitterschwülen Vorderhause in den Wald; sie waren unglücklich und bedurften des Trostes; aber es berührte mich trotzdem peinlich, daß sie in ihrer Bedrängniß zu dem unheimlichen alten Manne hielten.

Die Wandelnden bogen in den Weg ein, der sehr nahe an meinem Versteck hinlief. Eckhof dämpfte seine Stimme auffallend; seine breit betonende Redeweise ließ mich jedoch jedes seiner Worte klar und deutlich verstehen. Er hielt den Hut in der Hand; sein blüthenweißer Scheitel leuchtete hell auf, sonst aber erschien der schöne, alte Kopf gleichsam verdunkelt. – Der grimmige, verbissene Ausdruck zeichnete zahllose Falten und Fältchen in das sonst so blanke, man möchte sagen, auch von innen heraus eitel gepflegte Gesicht.

„Schweigen Sie um Gotteswillen mit ihren Tröstungen!“ rief er stehenbleibend nichts weniger als höflich. „Die Folgen sind unberechenbar! Das können Sie beide nicht beurtheilen, die Sie nicht wissen, welch einen ungeheuren Schritt vorwärts wir dadurch gethan hatten, daß das Haus Claudius mit seinen vielen Seelen in unsere Reihen eingetreten war – das hat imponirt und der Kirche manchen Schwachen und Schwankenden wieder zugeführt. … Und nun wird der mühsame Aufbau mit einem solchen Eclat, einer solchen Rücksichtslosigkeit niedergerissen. … Welche unselige Verblendung, den Götzen der Neuzeit, die unselige sogenannte Bildung an die Stelle zu setzen, da der Herr bereits wieder geherrscht hat in seiner alten Macht und Strenge!“

„Der Onkel schlägt sich selbst in’s Gesicht mit seiner Marotte,“ sagte Dagobert kalt. „Die Mächtigen und Besitzenden haben keinen besseren Verbündeten als die Kirche gegen den Schwall Derer, die frech an dem Bestehenden rütteln. … Hätte ich Macht und Geld in den Händen, dann wäre Ihre Partei um einen eifrigen Förderer reicher – ich begreife meine Zeit und gehöre zu denen, die dem tollen Kreisel, den sie Fortschritt nennen, ein Bein stellen.“

„In Bezug auf die Kirche denkt Fräulein Charlotte anders,“ sagte Eckhof, und sein glühendes Auge heftete sich durchdringend und streng auf das junge Mädchen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_748.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)