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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

strich mir mit ihrer harten Hand über die Augen. Sie hatte den Reise-Ueberrock an; auf dem Tische lag der Kirchenhut, und nicht weit von mir stand das Kistchen mit ihren wenigen Effecten, in welches sie eben den letzten Nagel eingeschlagen hatte. Sie war bereits droben bei meinem Vater gewesen, um sich zu verabschieden; ich durfte sie nicht begleiten; aber drunten auf dem Treppenabsatz hörte ich, wie sie in beschwörenden Tönen nochmals ihr sorgenschweres Herz ausschüttete. Sie kam mit dunkelglühenden Backen wieder heraus; die Erregung hielt sie jedoch nicht ab, den Rückweg mit dem Staubtuch in der Hand anzutreten – mit jedem Schritt abwärts polirte sie eine der Marmorstufen; denn die Prinzessin sollte ja binnen einer Stunde kommen, und da mußte doch Alles „blitzblank“ sein.

Nun brachte sie die Schachtel mit den Perlen, die mir meine Großmutter geschenkt hatte.

„Da, Kind,“ sagte sie, während sie mir die Schnur um den entblößten Nacken legte, „die Prinzessin kann’s wissen, daß Du nicht gar so arm zu Deinem Vater gekommen bist – ich weiß, was für ein Heidengeld in solchen Dingern steckt, hab’s manchmal mit ansehen müssen, wenn meine arme Frau Stück für Stück aus der Jakobsohn’schen Erbschaft verkauft hat.“

Der Hut wurde hastig aufgesetzt, das große Wolltuch von der Schulter herab verhüllend über das Kistchen gezogen, das sie unter den linken Arm genommen hatte – dann schritt sie mit mir, ohne sich noch einmal umzusehen, nach dem Vorderhause. Ich hielt ihre Rechte und drückte sie an meine Brust und ging willenlos nebenher. Nur in der Hausflur fuhr ich zurück; denn Ilse ging nicht in Fräulein Fliedner’s Zimmer – auf ihr Befragen zeigte ihr der alte Erdmann die sogenannte „neue Schreibstube des Herrn“.

„Bist Du kindisch bis zum letzten Augenblick?“ schalt sie barsch, während sie ihre Kiste niederstellte und dann ohne Weiteres die bezeichnete Thür öffnete.

Grollend trat ich auf die Schwelle des gründämmernden Eckzimmers. Ich hatte Herrn Claudius nicht wieder gesehen seit jenem Abend, wo ich ihn gekränkt – ich wäre ihm ja auch am liebsten für immer aus dem Wege gegangen; nun aber wurde ich gezwungen, ihm gegenüberzutreten, und da that ich’s denn auch so herausfordernd wie möglich – er hatte ja viel Schuld auf dem Gewissen, nicht ich, nein, ich ganz gewiß nicht!

Er saß an einem der südlichen Fenster und schrieb. Als er uns unter die Thür treten sah, zog er an einer Schnur; die grünen Vorhänge neben ihm flogen auseinander, und durch das duftige Gitter draußen stehender Büsche leuchteten die bunten Felder des Blumengartens herein. Er stand auf und reichte Ilse die Hand. Ich hatte gemeint, nach dem Blick, den er mir neulich zugeworfen, müßten seine Augen ganz anders aussehen, aber sie richteten sich so groß und ernst auf mein Gesicht, wie bei unserer ersten Begegnung an seinem Schreibtische – sie schüchterten mich ein.

„Herr Claudius, nun wird’s Ernst,“ sagte Ilse, und das Trennungsweh, das sie bisher standhaft unterdrückt, brach aus allen Tönen. „Ich muß endlich heim, wenn mir nicht der Dierkhof aus den Fugen gehen soll. … Gott weiß, wie schwer mir das Herz ist; aber Sie sind mein Trost, Sie wissen, was Sie mir versprochen haben, und – da ist Lenore!“

Ehe ich mich dessen versah, hatte sie meine Hand gefaßt und wollte sie in seine Rechte legen. Er wandte das Gesicht weg und griff nach einem Buche, das er in der Hand behielt – ich verstand ihn sofort – ich hatte ja neulich vor seiner Berührung geschaudert.

„Wachen will ich unermüdlich, Frau Ilse,“ sagte er mit der gewohnten Gelassenheit; „aber ob ich mir schließlich die Macht erkämpfen werde, auch zu leiten und selbst einzuwirken, das müssen wir einstweilen dahingestellt sein lassen –“

„Herr Claudius, Sie meinen doch nicht, daß es dem Kinde an dem nöthigen Respect fehlen wird?“ unterbrach ihn Ilse. „Lenore weiß nun schon, daß der Herr Doctor bei seinen Geschäften nicht viel an sie denken kann, daß ein Anderer da sein muß, der wie ein Vater für sie sorgt“ – ich sah, wie eine zarte Röthe sein ganzes Gesicht selbst über die Stirn hinauf überfloß –, „bis sie wieder heim kann auf den Dierkhof. … Ich sag’s ja, Sie sind mein Trost in der schweren Stunde, und wenn Sie auch Lenoren die Hand nicht gegeben haben – je nun, Sie sind ein ernsthafter strenger Mann, und sie ist ja noch das pure Kind im Thun und Wesen –“

„Das liegt doch wohl anders, als Sie denken,“ fiel er ihr in das Wort … welche Qual! Nun griff auch noch Ilse ahnungslos mit harter Hand in die Wunde, die ich ihm zugefügt. Das ganze Reuegefühl überkam mich wieder – noch in diesem Augenblick konnte ich wieder gutmachen, was ich verbrochen – nein, ich durfte nicht mehr, ich wäre dann ebenso falsch gewesen, wie der verabscheute alte Buchhalter, der seinen Herrn verrathen hatte und doch scheinbar auf gutem Fuße mit ihm blieb.

„Trost braucht wohl vor allen Dingen Ihre Schutzbefohlene, Frau Ilse,“ fuhr er fort – seine Augen hingen, mir zur Pein, unverwandt an meinem Gesicht. „Sie ist so blaß, ich fürchte, Abscheu und Angst vor dem engen Baumkreis, der ihre Stirn bedroht, werden nun doppelt über sie kommen.“ Er nahm einen neuen Schlüssel von der Wand und legte ihn auf den Schreibtisch vor mich hin. „Ich weiß, wo Sie das Trennungsweh am ersten überwinden werden, Fräulein von Sassen,“ sagte er. „Ich habe das Schloß an der Gartenthür neu herrichten lassen – der Schlüssel gehört Ihnen; Sie können nun ungestört die Familie Helldorf besuchen und mit Ihrem kleinen Liebling verkehren, so oft Sie wollen.“

Ilse sah sehr verwundert drein; allein es blieb keine Zeit zu näheren Erörterungen. Draußen über das Pflaster des Hofes rasselte ein Wagen.

„Frau Ilse, Sie müssen fort,“ sagte Herr Claudius, indem er nach einem Fenster schritt und die Vorhänge auseinanderzog. Vor der Hofthür stand seine Equipage, der alte Erdmann hob eben Ilse’s Kiste hinein.

„I was, in dem Wagen soll ich doch nicht fahren?“ rief sie erschrocken.

„Warum nicht? … Ich meine, der Abschied vollzieht sich rascher, als wenn Sie zu Fuße das Haus verlassen.“

„Na, denn in Gottes Namen. … Da, Kind, vergiß den Schlüssel nicht“ – sie schob ihn mir in die Tasche –; „ich weiß zwar nicht, was es für ein Bewenden damit hat; aber Herr Claudius giebt ihn Dir, und da lasse ich ihn unbesehen in Deinen Händen.“

Sie schüttelte ihm herzhaft die Hand und ging. Draußen in der Hausflur standen wartend Fräulein Fliedner und Charlotte. Ich konnte den funkelnden Blick, das strahlende Lächeln des jungen Mädchens nicht ertragen und lehnte schluchzend das Gesicht an Ilse’s Brust. Die Starke rang heftig mit dem Weinen, ich hörte ihren mühsamen Athem; einen Augenblick umschlossen mich ihre Arme krampfhaft. Wie durch einen Schleier sah ich drüben zwischen den grünen Vorhängen Herrn Claudius stehen; er winkte Ilse verstohlen zu, die Qual abzukürzen; sie brauchte es nicht – ich that es selbst. Die Hände auf die Schläfen gepreßt, floh ich durch den Hof in den Garten hinein, und erst, als ich über die Brücke lief, hörte ich fern den Wagen durch den Thorweg brausen.

Ich schlug die Läden vor meine Fenster, verriegelte die Thüren und warf mich in die Sophaecke, wo Ilse zuletzt gesessen. So lag ich stundenlang in dumpfem Schmerz. …

Die Prinzessin Margarethe kam; mein Vater begrüßte sie in der Halle – ich hörte, wie Herr von Wismar und das Hoffräulein den Kranich scheltend fortjagten, der jedenfalls der Durchlauchtigsten Dame mit seinen Reverenzen zu nahe gekommen war. … In der Beletage verstummten die Schritte der Hinaufsteigenden, die Prinzessin verharrte wahrscheinlich vor den geheimnißvollen Siegeln – eine entsetzliche Beklemmung schnürte mir die Brust zusammen, Ilse war ja nun fort und der Augenblick nahe, mit welchem ich mich anheischig gemacht hatte, die untrüglichen Beweise zu den Mittheilungen des Buchhalters zu bringen – ich griff in die Tasche und schleuderte den Schlüssel, als senge er mir die Finger, weit in das Zimmer hinein. … Man vertraute mir, wo ich hinterging. Seltsam, der Mann im Vorderhause stand an meiner Seite, wohin ich mich auch wenden mochte, zartvorsorglich, ernst und still, aber unabweisbar. … Und ich wollte doch keine Gemeinschaft mit ihm, ich hielt zu den Anderen, unverbrüchlich zu den Anderen; eines Tages mußte er das erfahren – zu seinem Schaden. Ich wühlte das Gesicht noch tiefer in die Polster, in diesem Augenblick that mir selbst der feine Streifen Sonnenlicht wehe, der durch den Laden drang.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_764.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)