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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


was von jetzt ab in der Weltgeschichte mitspricht, mag sein gutes Theil zur Umgestaltung der Musik beigetragen haben, denn die alte, weiche, schmiegsame Kunst muß den Musen den Dienst kündigen und nur noch der einen Gottheit dienen. Die fröhliche und leichtlebige Muse wird in starre Fesseln geschmiedet und schreitet nur in Begleitung von Kutte und Weihfaß einher. Gelehrte Mönche schreiben noch gelehrtere Abhandlungen, und ehe ein halbes Jahrtausend verstreicht, haben sie bis zwölf Tonleitern auf vier reducirt, von denen die erste fast wie obige aussieht; doch der weltliche Schmuck ist ihr abgestreift und in christlicher Demuth schreitet sie einher:

Wenn den Griechen die Musik zur Begleiterin der Freudenfeste diente, so diente sie jetzt zur Erbauung der Gläubigen, und die armen Chorknaben mußten tüchtig heran, um die langen und schwierigen Gesänge zu erlernen und wohl bewandert zu sein in den Künsten der Contrapunktik. Damals genügte nicht ein halbes Stündchen üben, sondern Gebet, Latein und Singen wechselte von früh bis spät miteinander ab. Was mögen die armen Jungen manchmal ihre lateinisch abgefaßten Musikbücher mit den großen schwarzen Pfundnoten mit und ohne Schwänzchen verwünscht haben! Wie manche Ligatur mag ihnen an den Kopf geflogen und ihre Messung am Abendbrod abgezogen worden sein, – und gar die Tonleitern mit ihren harten Fortschreitungen und ungelenken Intervallverbindungen! Jetzt genügte nicht mehr Gesang, Flöte und Harfe, jetzt kam die Uebung auf Orgel, Clavier und dem Heere von Streich- und Blasinstrumenten hinzu. Da mögen die Tonleitern was Ehrliches abgequält worden sein, um Gehör und Finger gefüge zu machen.

Doch das eigentliche musikalische Zeitalter sollte erst in der neueren Periode beginnen. Mächtig schlugen die Worte des Mannes Gottes Dr. Martin Luther an, und hallte seine Begeisterung für die Musik durch das ganze Land. Die Notendruckereien, die kaum das Licht der Welt erblickt hatten, erstanden wie Pilze aus der Erde und schafften eine Unmasse Material herbei. Laute und Clavier wurden so recht Hausinstrumente und das sang und klimperte durch die ganze Welt. Elektrisch wirkte die Erfindung der Oper und entriß der Kirche den Zügel, mit welchem sie Jahrhunderte lang die Ausübung der Musik geleitet hatte. Die Solosänger waren nicht mehr zufrieden mit einem einfachen Gesange, sie wollten glänzen, bewundert werden, die Menge sollte sie anstaunen; – die Instrumentisten blieben natürlich nicht zurück, und so steigerte sich die Virtuosität von Stufe zu Stufe. Die alten Kirchentonarten, wie man sie nannte, wollten nicht mehr hin- und herreichen, man zerrte hier, man zerrte dort, und nach der Frist von kaum einem Jahrhundert war die moderne Tonleiter fix und fertig und guckte keck in die Welt. He, wie die herauf- und herunterrollt, wie die Finger fliegen, das Jahrhundert der Dampfmaschinen kann nicht mehr ferne sein:

Wer jetzt mitreden will, der muß früh anfangen seine Finger zu rühren, sonst lacht man ihn aus und er zieht sich beschämt zurück und bedauert die verlorene Jugendzeit. Darum heran, liebe Jugend, die Musik ist eine herrliche Kunst. Wo ist der Jubel wohl größer als in der Musik, wo die Freude reiner und ungestörter als bei ihr, wer tröstet besser und vertreibt die Mußestunden herrlicher? Sie kettet die menschliche Gesellschaft mit wunderbarer Gewalt aneinander, und ein junger Mann, der zur Begleiterin die Musik in’s Leben nimmt, ist geborgen bei Jedermann. Laßt euch in der Jugend die Fingerübungen nicht verdrießen, und der Lehrer, welcher euch streng anspornt, ist der beste; ein sanfter Musiklehrer ist eine Unmöglichkeit, er müßte denn ein eisernes Nervensystem haben.

Rob. Eitner.     

Eine Denunciation für den Reichstag. Zu den mancherlei Stiefkindern deutscher Gesetzgebung gehört allbekanntlich die Presse. Wer uns die Geschichte der deutschen Presse nur seit den letzten fünfundfünfzig Jahren, von der Errichtung des deutschen Bundes an bis zu der des neuen deutschen Kaiserreichs, in’s Einzelne erzählte, würde nicht verfehlen, eine Bilderreihe voll unsäglicher Jämmerlichkeit vor uns aufzurollen. Geben doch die Zeiten der Censur allein die Gelegenheit zu einer ansehnlichen Anekdotensammlung; wie groß ist dann erst der bittere Ernst, der zerstörend in Tausender und gerade der begabteren Geister Leben und Wirken eingriff! Es ist nicht zu viel behauptet, daß zu verschiedenen Zeiten in der Behandlung der Presse auf Seiten der Regierungen die einzige deutsche Einigkeit zu verspüren war. Und noch heute, wo es selbst dem Mann von einfachster Bildung nicht mehr unklar ist, was die Tage unseres Kriegs gegen Frankreich zur größten Zeit aller Jahrhunderte erhob, ob der Gamaschenknopfcultus oder der Geist, der durch Schule und Presse in der ganzen Nation verbreitet worden ist, selbst jetzt sind noch Staatsanwälte möglich, welche sich in geradezu verletzenden Schimpfereien gegen die Presse vergehen, wovon der Manteuffel-Voget’sche Proceß noch jüngst ein Beispiel geliefert hat. Nur die Sorge um Bewahrung der Souverainetät vermochte hie und da einen der Bundesstaaten, seiner Presse ein wenig freieren Athem zu gestatten, und es gab auch wieder Zeiten, wo diese Regierungen auf solche liberale Anwandlungen sich gern Etwas zu Gute thaten.

Leider ist das jüngste dieser Beispiele außerordentlich unglücklich ausgefallen. Es war in den Tagen seiner Wahlreisen als Zollparlaments-Candidat, als der würtembergische Justizminister v. Mittnacht den Wahlmännern folgende große Betheuerung gab: „Würtemberg,“ so sprach er, „ist allein noch dasjenige Land, in welchem weder Beschlagnahmen, noch viel weniger Preßprocesse mehr vorkommen!

Allerdings, ein Preßproceß ist’s nicht, es ist vielmehr eine Beschlagnahme ohne allen Proceß, welche in diesem Augenblick die Verwunderung von ganz Deutschland über die Möglichkeit einer Preßbehandlung in Würtemberg hervorruft. Vor sechsundzwanzig Jahren, zur schönsten Bundestags-Blüthezeit, wurde ein Buch „Historische Denkmäler des christlichen Fanatismus, von O. v. Corvinmit königlich sächsischer Censur gedruckt und durch vier Auflagen in zwanzigtausend Exemplaren verbreitet. Nur Oesterreich verschloß sich ihm, – aber was wäre denn im damaligen Oesterreich nicht verboten worden! –

Und heute, nachdem die Geschichte von 1848, 1866 und 1870–71 an uns vorübergezogen, nachdem der Kirchenstaat unter- und das neue deutsche Reich aufgegangen ist und der deutsche Geist sieggekrönt vor allen Völkern steht, – heute wird dasselbe Buch Corvin’s, das in einer neuen Auflage und unter dem Titel „Pfaffenspiegel“ gedruckt wurde, bei dem Stuttgarter Verleger der Firma „Vogler und Beinhauer“ in tausendsechshundert Exemplaren ohne jede gerichtliche Procedur mit Beschlag belegt und zur Vernichtung verurtheilt. Ja, noch mehr! Ein autographirter Ministerialerlaß erging an sämmtliche Oberämter des Königreichs, um Landjäger und Polizeidiener zur Fahndung auf das böse Buch in Galopp zu setzen. Wer das Buch im deutschen Staate Würtemberg verkauft, hat für den ersten Fall fünfundsiebenzig Gulden und für jeden Wiederholungsfall das Doppelte zu bezahlen.

Die Justiz war bisher einzig dadurch mit in Action getreten, daß der Verleger vor das Stuttgarter Stadtgericht beschieden und ihm allda eröffnet wurde, daß das Kreisgericht, auf zwei Paragraphen des würtembergischen Preßgesetzes von 1817 gestützt, die Beschlagnahme des Buches bestätigt und die Vernichtung der confiscirten Exemplare angeordnet habe. Eine Anklage gegen Verleger und Verfasser ist nicht eingetreten, keine Art von Gerichtsverfahren fand statt, und es wurden nicht einmal die beanstandeten Stellen des Buchs angegeben!

Daß hier eine Rechtsverletzung vorliegt, wird Niemand leugnen, und eben deshalb findet sich ohne Zweifel unter den Volksvertretern des Reichstags wohl ein Mann, welcher am rechten Ort die rechte Frage darüber anbringt. Nach der obigen Betheuerung des königlich würtembergischen Herrn Justizministers v. Mittnacht ist es uns nicht möglich, an die fürchterliche Sage zu glauben, welche über den angeblichen Ursprung jener rapiden Beschlagnahme murmelnd durch das Volk geht. Man sagt nämlich, die Beschlagnahme sei erfolgt „anläßlich eines gegen das betreffende Buch gerichteten wuthschnaubenden Artikels in dem in Stuttgart erscheinenden ‚Deutschen Volksblatt‘, sowie ohne Zweifel (!) auf ergangene Einsprache der ultramontanen Partei bei deren Träger und Beschützer, einer in hohen Kreisen einflußreichen Persönlichkeit, einem General, der einst durch den besondern Schutz der Heiligen von den schwarzen Pocken genesen sei und dafür ihnen sich stets dienstbar erweise.“

Schon die stilistische Fassung dieser Sage verbietet uns, ihr zu trauen; außerdem haben wir viel zu viel Respect vor einem Proceß wegen Majestätsbeleidigung, denn eine solche befürchten wir zu begehen, wenn wir uns herausnehmen wollten, an obige Sage zu glauben.

Klarheit muß aber in dieser Angelegenheit an den Tag kommen. Es handelt sich nicht um Werth oder Unwerth, Schuld oder Unschuld des Buchs, worüber wir uns kein Urtheil herausnehmen, sondern um Recht und Gerechtigkeit in der Behandlung der Presse, und darum denunciren wir diesen Fall hiermit dem deutschen Reichstag und erwarten vom deutschen Volke, daß es uns diese Denunciation vergeben werde.


Der Tunnel unter dem Canal von Dover nach Calais. Das Gelingen des Mont-Cenis-Tunnels hat den verwegensten Ingenieuren Muth gemacht und es sind die verschiedensten Pläne aufgetaucht, wie man die Schwierigkeiten eines Tunnels unter dem Kanal von Dover nach Calais überwinden könne. Ein englischer Ingenieur, den ich befragte, schreibt darüber: „Zuerst sind sogar die Geologen getheilter Meinung. Die Einen sagen, das Bett des Kanals bestehe aus hartem solidem Kalk und Kreide. Nichts könne bequemer für Anlegung von unterirdischen Gängen gedacht werden; das Material schneide sich so bequem wie ein Käse und biete auch in keiner andern Hinsicht das geringste Hinderniß; die einzige Frage sei die Auslage und ob sich’s verzinsen werde. Auf der andern Seite behaupten völlig competente Geologen, das Bett, unter dem der Tunnel hinlaufen solle, sei poröser Art und in weite Spalten und Risse zerklüftet, die so weit in die Erde hinunterreichten, daß sie die Arbeit absolut unmöglich machten. Man erinnere sich der Wassereinbrüche in den Themsetunnel, die man auch nicht vorhergesehen hatte. Ich nehme weder die eine, noch die andere Theorie unbedingt an. Darüber kann nur ein wirklicher Versuch entscheiden, und ich will nur gerade heraus meine Meinung sagen, daß nämlich dieser Versuch nie so weit fortgeführt werden wird, um die Streitfrage praktisch zu entscheiden.

Ich weiß sehr wohl, daß viele leitende Organe in England und auf dem Continent die öffentliche Meinung für den Plan einzunehmen gesucht haben und daß sie ihn nicht nur für thunlich halten, sondern auch eifrig zur Ausführung rathen. Aber ich bin so entschieden der entgegengesetzten Ansicht, daß ich keinen Zweifel hege, die 20,000,000 Pfd. Sterling, die veranschlagt sind, um das Unternehmen auszuführen, würden rein weggeworfen sein; und während wir so einem Schatten nachjagten, würden wir einen wirklichen Ersatz, den wir sicher in unserer Macht haben, aufopfern.

Zuerst angenommen, ein Tunnel unter der See fünfundzwanzig Meilen (über fünf deutsche Meilen) lang ließe sich bauen und lüften; wer ist so kühn, daß er behauptet, er würde rentiren? Wo wollte man die Reisenden finden, die sich einem solchen verlängerten Rattengange anzuvertrauen den Muth hätten, die drei Viertelstunden lang der Beängstigung trotzen wollten und jeden Augenblick Gefahr laufen möchten, daß durch irgend einen Zufall die Ventilirung gestört und der ganze Zug erstickt würde? Wer nur durch einen Tunnel von drei englischen (drei Viertel deutschen) Meilen gefahren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_775.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)