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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Augen meiner Großmutter vor mir auf, und ich hörte ihre schwachröchelnde Stimme wieder sagen: „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort,“ und dann zu mir: „sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind, Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge“ – der Name, den ich angeblich heute nicht gewußt hatte, er war mir sogar in das Gesicht geschrieben – ein verlogeneres treuloseres Geschöpf als mich gab es wohl nicht in der ganzen weiten Welt! … Auf welchem Wege war ich! Wie oft schon in den wenigen Wochen hatte ich mich hinreißen lassen, unrecht und kopflos zu handeln! Aber nun wollte ich gut werden – voll Inbrunst drückte ich die Perlen an meine Lippen – wollte nie wieder blind in den Tag hinein handeln, ohne zu fragen: wem thust du wehe damit? …

Draußen tobten Sturm und Regen ungeschwächt weiter – es schien, als kämpften zwei Gewitter zugleich in den Lüften. … Da sah ich auf einmal zu meinem Schrecken Gestalten drüben aus dem Bosquet treten und auf das Haus zulaufen – es waren die beiden Geschwister.

„Da, Kind, so muß man sich durchkämpfen, wenn man die Spuren seines Glückes sucht!“ sagte Charlotte athemlos im Eintreten. Sie schleuderte einen in Stücke zerbrochenen Schirm in eine der Zimmerecken, und auf das Sopha ihren wassertriefenden Shawl, darauf fuhr sie sich mit dem Taschentuch abtrocknend über Gesicht und Scheitel.

„Endlich!“ rief sie. „Wie haben wir auf der Folter gestanden, so lange Onkel Erich im Garten war und wir nicht vorüberkonnten! … Jetzt sitzt er in seiner Schreibstube und Eckhof auch, dem wir, auf Ihren Wunsch hin, nicht gesagt haben, daß Sie unsere Vertraute sind – Ihr Papa ist im Schloß, glücklicher konnte sich’s nicht fügen – wir sind Herren des Terrains. Vorwärts denn!“

„Jetzt?“ rief ich, mich schüttelnd. „Es muß zum Fürchten schrecklich droben sein!“

Dagobert brach in ein lautes Gelächter aus; Charlotte aber wurde dunkelroth im Gesicht und stampfte zornig mit dem Fuße auf.

„Gott im Himmel, seien Sie doch nicht solch ein Hasenfuß!“ schalt sie in ausbrechender Heftigkeit. „Ich sterbe vor Ungeduld, und Sie kommen mir mit solchen Faseleien! … Bilden Sie sich denn wirklich ein, ich ginge noch einmal fügsam und geduldig zu Bette, nachdem ich auf den Fortgang Ihrer fatalen, nicht fortzubringenden Ilse gehofft und geharrt habe, wie die Juden auf den Erlöser? Ja, ich ließe auch nur den Abend herankommen, ohne daß ich mich von den furchtbaren Zweifeln befreit hätte, die der Onkel heute mit seiner Erklärung in meine Seele geschleudert hat? – An meinem eigenen Herzschlag müßte ich ersticken! … Dazu geht Dagobert übermorgen in seine Garnison zurück – er muß sich erst noch überzeugen. Nicht eine Minute Frist geben wir Ihnen. Halten Sie Ihr Versprechen! Vorwärts, vorwärts, Kind!“

Sie ergriff mich an den Schultern und schüttelte mich. Bis dahin hatte ich dieses urkräftige energische Mädchen scheu geliebt und bewundert, jetzt fürchtete ich mich vor ihr, und die Art und Weise, wie sie von Ilse sprach, empörte mich; aber ich war still, ich hatte ja selbst den Kopf in diese Schlinge gesteckt und konnte nicht mehr zurück. Schweigend öffnete ich die Thür meines Schlafzimmers und zeigte nach dem Schranke.

„Wegrücken?“ fragte Charlotte, mich sofort verstehend.

Ich bejahte, und in demselben Augenblick schon hatten die Geschwister das Möbel erfaßt und seitwärts geschoben – die Tapetenthür wurde sichtbar … Charlotte schloß auf und trat auf die Treppe. Einen Moment blieb sie stehen und preßte tieferbleichend beide Hände auf das Herz, als müsse sie in der That an den heißen Blutströmen ersticken, die es pochen machten – dann flog sie hinauf, Dagobert und ich folgten.

Ich hatte Recht gehabt – es war schauerlich hier oben. Gerade um diese Ecke tobte der Sturm, als wolle er sie wegstoßen und die hier eingeschlossenen Erinnerungen und Ueberbleibsel geheimnißvoller Begebenheiten in alle Lüfte verstreuen. Hinter den schattenhaften Rosenumrissen der Rouleaux klirrten die Scheiben[WS 1] und schossen unermüdlich die brausenden und verdunkelnden Wasserströme nieder; selbst der verklärende Schein der rosenfarbenen Gazedraperie wurde von dem hereinbrechenden Dunkel aufgesogen.

Die Thür öffnen, eintreten und den über der Fuge hängenden Frauenmantel ergreifen, war für Charlotte Eins; sie nahm ihn vom Nagel und breitete ihn aus. –

„Es ist ein Domino, den ebenso gut ein Herr, wie eine Dame getragen haben kann,“ sagte sie tonlos und ließ das Kleidungsstück auf den Teppich fallen. … Achselzuckend trat sie an den Ankleidetisch und überflog in ängstlicher Musterung das Silbergeräth. „Pomade und Poudre de Riz, und hier verschiedene Flacons mit Schönheitswässern!“ warf sie hin, den dicken Staub wegblasend. „Wie es auf der Toilette eines schönen, jungen, von der Damenwelt angebeteten Officiers aussieht, wissen wir, gelt Dagobert? Der schöne Lothar war eitel trotz einer Dame – wenn Sie keine besseren Beweise bringen, Kind, dann steht es schlimm!“ sagte sie über die Schulter zurück in anscheinender Ruhe zu mir; aber ich sah etwas in ihren Augen glimmen, was mich doch wieder mit einer Art von Mitleiden erfüllte – es war Todesangst und die tiefste Entmuthigung.

Da stieß sie plötzlich einen zitternden Schrei aus, einen jubelnden Aufschrei, der mir durch Mark und Bein ging. Sie breitete die Arme aus, stürmte durch die offene Thür des Nebenzimmers und warf sich über die Korbwanne, die neben dem einen Bett unter dem violetten Baldachin stand.

„Unsere Wiege, Dagobert, unsere Wiege – o mein Gott, mein Gott!“ stammelte sie, während ihr Bruder an eines der Fenster sprang und die dunkeln Vorhänge zurückschlug. Fahl und ungewiß fiel das Tageslicht auf die kleinen vergilbten Polster, in die Charlotte ihr Gesicht vergraben hatte.

„Es ist wahr, Alles wahr, bis auf’s Jota!“ murmelte sie sich erhebend. „Ich segne die Frau im Grabe, die gelauscht hat! … Dagobert, hier hat unsere fürstliche Mutter unseren ersten Schrei gehört! Unsere fürstliche Mutter, die stolze Tochter der Herzöge von K., wie das berauschend klingt, und wie sie in den Staub sinken, die Aristokratentöchter, die über das Adoptivkind des Kaufmanns die Nase rümpften! … Gott im Himmel, mich erdrückt das Glück!“ unterbrach sie sich aufschreiend und preßte die Stirn zwischen die Hände. „Er hat Recht gehabt, unser grausamer Feind, der im Krämerhause, als er mir neulich sagte, ich müsse die Wahrheit erst ertragen lernen! – Ich bin geblendet!“

„Meinetwegen denn,“ sagte Dagobert trocken und ärgerlich, indem er den Vorhang wieder über das Fenster fallen ließ. „Tobe Dich aus! … Aber dann möchte ich doch ein wenig an Deine Vernunft appelliren, diese Ueberschwenglichkeit ist mir geradezu unverständlich. … Für mich bedurfte es solcher Beweise nicht mehr, Eckhof’s Mittheilung hat mir vollkommen genügt, und auch sie war nur der Sonnenstrahl, der das näher beleuchtete, was wir bereits in unserer Brust, in unserem Blut besaßen.“

Charlotte breitete zärtlich den grünen Schleier wieder über das kleine Bett.

„Danke Gott für diese Seelenruhe!“ sagte sie gefaßter. „Mein skeptischer Kopf hat mir schwer zu schaffen gemacht während der letzten Tage. … O, Sie liebe Unschuld,“ lachte sie mich spöttisch an, „Sie faseln mir von Schriftproben einer Damenhand und von Frauenmänteln, die sich als sehr zweifelhafter Gattung erweisen, und dieses Zimmer mit seinen Details entgeht Ihrem blöden Auge! … Sind Sie denn wirklich so entsetzlich – harmlos? … Mit einem einzigen Wort konnten Sie mir die Marter der letzten Zeit ersparen!“

Ich hörte kaum auf diese sarkastisch höhnende Stimme. Beklommen mußte ich an Eckhof’s pathetisch hingeschleuderte Worte von dem Lebendigwerden in den versiegelten Sälen denken. In diesem Augenblick wurde Alles aufgerüttelt und unter dem deckenden Staube hervorgezogen, was an dem Geheimniß zweier längst erloschener Menschenleben theilgenommen hatte. … Wie ängstlich war dieses Geheimniß gehütet worden! Selbst die Schwester der Prinzessin war ahnungslos daneben hingegangen – wer wußte denn, ob die Zwei nicht heiß gewünscht hatten, auch über den Tod hinaus den Schleier festzuhalten? … Nun lagen sie im Grabe, das schöne Prinzessinnengesicht und der Mann mit dem blutigen Maal auf der Stirn, und konnten fremden Augen und Händen nicht wehren – oder durften sie zurückkehren und warnen, wie der finstere Fanatiker gemeint hatte? Schauerlich lebendig war es ja geworden, da, wo ich nur den lautlosen Sonnenstrahl hatte spielen und weben sehen. Ja, draußen schmetterte freilich der Gewittersturm gegen die Mauern; aber hier zog es in leisem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schreiben
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_782.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)