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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Er half Jemand sorglich über den Tritt herab. Das Licht mehrerer herbeigebrachter Lampen quoll jetzt durch die Hofthür und fiel auf ein junges Mädchen, das, halb in Herrn Claudius’ Armen hängend, auf das Pflaster glitt. Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte die zarte, tief vornübergebeugte Gestalt, und das unbedeckte Haar hing unordentlich und aufgelöst um ein schönes, aber in verzweifeltem Schmerz verzogenes Gesicht.

„Ihre Mutter ist ertrunken,“ flüsterten die Leute, die mitgekommen waren.

Herr Claudius schlang seinen Arm fester um ihre Taille und führte sie die Stufen hinauf. Er strich im Dunkeln dicht an mir vorüber – seine Kleider waren schwernaß.

Auf der obersten Stufe stand Fräulein Fliedner und streckte ihm die Hände entgegen; was er ihr sagte, konnte ich nicht verstehen – eine plötzliche Scheu und ein unerklärliches Wehegefühl hatten mich von den Menschen fort, tiefer in den Hof hinein gescheucht aber ich sah, wie die alte Dame sanft den Arm der Weinenden in den ihren legte und sie hinwegführte. Herr Claudius verweilte noch einen Augenblick droben in der Flur und sprach mit Charlotte. Es entging mir nicht, daß er dabei suchend umherblickte – hatte er doch vorhin meine Stimme erkannt und wollte sich nun überzeugen, ob ich, der er zürnte, es wirklich gewesen sei? … Was für thörichte Gedanken! Er hatte jetzt Wichtigeres zu denken – wie viel Unglück hatte er heute mit ansehen müssen, und was für schwere Aufgaben lagen nun auf seinen Schultern! … Und hatte er nicht eben ein tiefgebeugtes, verwaistes Mädchen in sein Haus eingeführt – eingeführt mit zärtlicher Sorgfalt und tiefem Mitgefühl? Sie war nicht so undankbar wie ich; sie stieß die Hand nicht zurück, die sie stützen wollte – vertrauensvoll hatte sie sich dem Arm hingegeben, der sie umschlang. … Und da sollte er sich noch des tolltrotzigen Menschenkindes aus der Haide erinnern? … Ganz gewiß nicht.

Er kam die Stufen wieder herab, blieb in der Hofthür stehen und sah angestrengt in das Dunkel hinaus. Unterdeß war auch ein Herr aus dem Wagen gestiegen, der zu ihm trat – ich erkannte meinen Vater. Verwundert sah ich, wie er Herrn Claudius, dem mißachteten „Krämer“, in herzlichster Weise die Hand bot und sich unter warmen Dankesworten von ihm verabschiedete. Im Garten schlüpfte ich neben ihm hin und hing mich an seinen Arm. Er war sehr überrascht und konnte sich nur schwer in die Thatsache finden, „sein kleines Mädchen zu so später Nachtzeit noch im Freien auflesen zu müssen“. Er hatte den Herzog nach Dorotheenthal begleitet und dann, der Kürze wegen, die Rückfahrt in Herrn Claudius’ Wagen angenommen. Während wir nach der Karolinenlust schritten, erzählte er und sprach auch von Herrn Claudius.

„Was für ein Mann!“ rief er stehenbleibend. „Der Herzog ist entzückt von dieser Ruhe und Kaltblütigkeit, von der stillen Würde, mit der er sein Mißgeschick hinnimmt. … Ich habe den Mann für ein lebendiges Rechenexempel gehalten – das muß ich ihm abbitten! … “

Ja, was für ein Mann! … „Nun, das läßt sich wohl Alles mit der Zeit ersetzen, aber hier“ – mit diesen wenigen einfachen Worten hatte er seine enormen pecuniären Verluste dem Unglück des jungen Mädchens gegenüber abgewogen und das war der Zahlenonkel, der eiskalte Geldmensch? … Nein, „der Arbeiter im strengsten Sinne des Wortes“, der aber nicht lediglich um des Erwerbs willen wirkte, sondern weil er „in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen seiner Seele sah“ … Ach, jetzt verstand ich ihn schon besser! …

In dieser Nacht ging ich nicht mehr zu Bett. Ich setzte mich in die Fensterecke und wartete auf das Morgenlicht. – Mit dem Tage, der so blaß hinter den Bäumen aufglomm, wollte ich ein neues Leben anfangen.

(Fortsetzung folgt.)




Vom Großvater zum Enkel.

Vor vielen Reminiscenzpoesien von größerer oder geringerer Erbärmlichkeit, die der letzte große Krieg wie Pilze aufschießen ließ, zeichnete sich vortheilhaft ein prächtiges Soldatenlied aus, welches zuerst, so viel ich mich entsinne, im „Hannoverschen Courier“ veröffentlicht wurde. Den meisten unserer Leser ist es bekannt. Wer hat sich nicht erbaut an dem Urkräftigen:

Haut sie, daß die Lappen fliegen,
Daß sie all’ die Kränke kriegen
In das klappernde Gebein,
Daß sie, ohne auszuschnaufen,
Nach Paris und weiter laufen,
Und wir ziehen hinterdrein!

Der Verfasser wurde bald entdeckt in der Person des praktischen Arztes Kreußler aus dem Waldeckschen, der „auch einen Jungen dabei hatte“. Der tapfere Dichter, wackere Vater und gute Patriot nennt sich den Nachkommen einer uralten Fechtmeisterfamilie. Wenn er es nicht sagte, würde man es an seinen Versen merken können. Es liegt etwas darin, was an die eiserne Fechtmeisterfaust erinnert.

Als ich den Namen des Verfassers las, der sich selbst zu seinem Werke bekannte, da gingen meine Gedanken weithin wandern vom kühlfeuchten Ostseestrande nach dem milden Saalthale, nach dem alten tollen Jena, wo ich mich Studirens halber so lange Zeit aufgehalten, da stand ich wieder vor dem Johannisthore mit seinem alten Thurme, den Kirchhof mit dem Kirchlein auf sonniger Höhe zur Rechten, zur Linken eine grüne Gasse mit kleinen Häusern und Gärten. Aus dem größten Hause tönt Waffengeklirr und Commandoruf. Ich trete ein und stehe auf dem akademischen Fechtboden, der hohen Schule der edlen Fechtkunst.

Der schlanke Studiosus, der soeben seine Lection im Säbelfechten nimmt, wird sichtbar matter, die Hiebe fallen bleiern die Paraden werden schwächer. Der Meister wirft den schweren Pallasch in den Winkel und greift nach dem Hiebrappier, um schon nach zehn Minuten, wenn der neue Schüler sich für impotent erklärt, dasselbe mit dem deutschen Stoßrappier zu vertauschen. Jetzt kommt Leben auf die Bude! – Quart über den Arm. – „Quart parirt! Terz nachgestoßen!“ tönt das Commando. „Donnerwetter, nicht liegen bleiben! Zurück!“ – Es geschieht. – „Ausfallen! In Quart fintiren!“ – Wir thun’s, lassen aber dem Wütherich unsere Klinge den Bruchtheil einer Secunde; er faßt sie mit der seinigen, und klirrend fliegt die Waffe gegen die übertünchte Wand, daß eine Kalkwolke uns überpudert.

Wir reiben den schmerzenden Zeigefinger, kratzen uns hinter den Ohren und lesen unsern Spieß vom Boden auf. – „Das heißt ligirt, lieber Herr, echt deutsche Manier, – großer Vorzug unserer deutschen Vorfechtkunst vor der lumpigen französischen!“ – Folgt die Anweisung, wie „man’s macht“, nebst kritischer Vergleichung beider Stockfechtkünste. Bei dieser Beleuchtung zog die französische Waffe und ihre Führung stets den Kürzern.

„Bloß flüchtige Stöße, bei denen Klinge und Arm eine gerade Linie bilden, haben diese Franzosen. Keine Idee von unseren ‚festen‘ Stößen. Das Bischen Fintiren ist bei ihnen die Hauptsache. Und ligiren können sie bei ihrem erbärmlichen Fleuretchen mit der schäbigen Acht erst recht nicht! kein Stichblatt, keine Parirstange, wo man wie bei uns den Finger ordentlich durchstecken und das Spießchen festhalten könnte. Unmöglich, mit dem elenden französischen Dinge die Waffe des Gegners ordentlich zu fassen und vernünftig zu ligiren.“

Und so ging’s weiter bis zu dem großen Jenenser Fechtmeister, dem Kreußler, dem Vater der deutschen Stoßfechtkunst und, fügen wir hinzu, dem Urgroßvater unseres neuen deutschen Kriegsbarden.

Nach der Fechtstunde stieg ich drüben die sonnige Höhe hinan, um die Gräber der berühmten Fechtmeister zu besichtigen. Die Gräber fand ich nicht, wohl aber ihre kolossalen Leichensteine, aufrecht an die Kirchhofsmauer gelehnt. Vater, Sohn und Enkel in lebensgroßen fast quadratischen Gestalten in den Stein gemeißelt, die Inschriften nur mit Mühe erkennbar. Sind aber auch die Schriftzüge auf dem Steine fast erloschen, so lebt doch eine Erinnerung an den großen Fechter noch heute im Gedächtnisse der Jenenser. Ich erzähle die Geschichte, wie sie mir an Ort und Stelle mitgetheilt wurde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_798.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)