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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

und sinnigen Stirn dieser Jungfrau sprach doch anheimelnd der stolze Kampf des Jahrhunderts, das heitere Siegesbewußtsein der ringenden Zeit- und Volksgedanken. Viele Tausende unserer Leser werden den Eindruck nicht vergessen haben, sie wissen noch, daß es Marlitt’s „Goldelse“ gewesen, die in jener eisernen Zeit großer Wendungen ihnen Stunden des Glückes bereitet und wie ein erquickender Sonnenblick durch ihre Herzen und Häuser geleuchtet hat. Freudiger, herzlicher und begeisterungsvoller kann eine menschliche Schöpfung nicht begrüßt werden, als diese junge Erzählung weit und breit in Hütten und Palästen sich begrüßt und aufgenommen sah, da sie zum ersten Mal auf den Schultern der „Gartenlaube“ durch die Welt getragen wurde.

Goldelse auf dem Walle.

Was wir hier sagen, ist kein Urtheil über das Werk, sondern nur Bestätigung einer zweifellosen Thatsache. Die strenge ästhetische Kritik mag ja an diesem und jenem Punkte den vollen Kunstwerth des Werks durch diesen oder jenen Mangel beeinträchtigt finden; aber die lebendige Aesthetik des Volksgemüths hatte über dieses Werk schon entschieden, das Werk hatte schon einen festen Platz im Urtheil und Herzen des Volkes erobert, war schon wie eine fromme Sage und ein beliebtes Märchen in das Fühlen und Denken großer Volksmassen verwoben, ehe sein Einfluß durch die Stimme der Kritik gehemmt oder gefördert werden konnte. Und als die Kritik endlich ihr Urtheil zu sprechen begann, da äußerte sie doch auch im Ganzen nur Lob für das Werk und nur Freude über den Sinn, der es bereits aus eigener Machtvollkommenheit erkannt und gewürdigt hatte. Das nennt man Instinct des Volkes, und von einem solchen Instincte sprechen wir, wo wir die Gesammtheit einer öffentlichen Meinung oder Stimmung ohne jede Hülfe der Reclame, ohne vorherige Ueberredung oder Verabredung in so durchschlagender Weise einer neuen Erscheinung sich zuwenden sehen. Ist die Erscheinung eine gute und gesunde, so kann mit Sicherheit angenommen werden, daß auch der Instinct, von welchem ihr Werth sofort erspürt, der sofort in besonderem Grade von ihr bewegt und angezogen wird, einem gesunden geistigen Boden entsprossen ist. Von einem sichtlichen Begehren nach schlechten und verwerflichen Producten, von einem offenen Beifall und einer unzweideutigen Empfänglichkeit für dieselben wird dagegen mit Recht auf eine Verderbniß und Verirrung des öffentlichen Geschmacks und auf einen Verfall seiner sittlichen Grundlagen geschlossen. Steht es also fest, daß die Geschichte von der Goldelse gleich bei ihrem ersten Erscheinen eine unleugbar große und ungewöhnlich ausgedehnte Theilnahme gefunden, so müssen wir doch weiter fragen, ob die Masse unseres deutschen Publicums auch hier richtig gefühlt und geurtheilt, ob es sich mit dieser offenkundigen Hinneigung ein Zeugniß gesunden und unverdorbenen Sinnes ausgestellt.

Wir glauben das und sind durch eine unbefangene Prüfung zu dieser beruhigenden Ueberzeugung geführt worden. Zunächst hat das große Publicum mit seinem Beifall den Beweis geliefert, daß es durch den Glanz berühmter Namen sich nicht bestechen läßt. Eine fast noch gänzlich unbekannte Verfasserin, deren wahrer Name sogar der schriftstellerischen Welt noch lange nachher ein emsig bewahrtes Geheimniß blieb, hatte aus tiefster Zurückgezogenheit die Gabe gespendet. Und die Gabe war kein sogenannter Sensationsroman, der mit aufreizenden Effecten blasirten Nerven zu genügen, durch scharf gewürzte Stoffmassen und spannende Abenteuerlichkeit der Verschlingungen die nimmersatte Gier eines fieberhaften Unterhaltungsdurstes zu stillen weiß. Ebensowenig bot sie Nahrung für das unklare Bedürfniß einer weichlichen Empfindsamkeit und Gefühlsschwelgerei, die gern von dem Dichter über die harten Conflicte der Gegenwart sich hinwegtragen und in eine romantische Traumwelt versetzen läßt. Und auch für eine dritte krankhafte Neigung großer heutiger Leserkreise fehlte dem neuen Roman jede Anziehungskraft: er war vor Allem nicht „pikant“ im undeutschen Sinne dieses zweideutigen Wortes, er hat keiner Frivolität, keiner Abweichung von der ernsten Pflicht geschmeichelt, nicht die Leidenschaften einer angefressenen Sittlichkeit mit brillantem Farbenschmelz umschleiert, nicht in den übelriechenden Schmutz des eleganten Lasters ein Rosen- und Veilchenparfüm gemischt.

Aus reifer Lebensanschauung und wärmster Gemüthstiefe stieg hier vielmehr ein ebenso einfaches als zartes Kunstgebilde vor den Seelen der Leser auf. Dasselbe kann vielleicht in Bezug auf Stoff oder Composition, auf Inhalt oder Form dem Widerspruche Einzelner begegnen, aber Niemand wird bestreiten können, daß es aus edlem Stoffe geschaffen und eine durchaus reine und keusche Gestaltung ist. Edel, rein und keusch nicht blos in den Vorgängen und Situationen, sondern auch in der Beseelung und Haltung des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_804.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)