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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Ich verlange von Jedem mit Recht die angestrengte Thätigkeit in seinem Beruf. … Aber meinen Sie denn, ich sei ein so eingefleischter Arbeiter, daß ich urtheilslos Alles in eine und dieselbe Form knete? … Einen, der mit grober Säge die überflüssigen Aeste vom Baume schneidet, lasse ich ruhig schalten und walten; allein ich kann sehr schelten, wenn er mir mit rohem Finger eine feine Blüthe berührt und den keuschen Sammet von den Blättern streift. … Ich möchte wohl das widerspenstige Zurückwerfen dieses kleinen Lockenkopfes gemildert sehen; aber nur durch die errungene geistige Ueberlegenheit, niemals unter dem lähmenden Joch der mechanischen Arbeit.“

Ich stand auf dem Punkt, die Aussicht auf den einzig möglichen Erwerb zu verlieren, weil ich es nicht über mich gewinnen konnte, den geschäftsmäßigen Ton wieder anzuschlagen, der ihn selbst treulos verlassen hatte. Alles, was er sagte, klang so verhalten und gedämpft, als fürchte er, jede lautere Hebung der Stimme könne eine innere Gluth zum Brand schüren, ihn zur Heftigkeit fortreißen. – War denn ein Wort gefallen, das die Erinnerung an die treulose Frau geweckt hatte? … Bewegt durch ein unerklärlich heftiges Weh- und Mitgefühl für den einst so schwer Gekränkten, griff ich zu dem einzigen Mittel, das mir blieb – zu der Bitte. Ich sprach und bat in warmen Tönen, vor denen ich selbst erschrak.

Ein Aufstrahlen flog wie Sonnenschein über sein Gesicht.

„Nun denn, Sie sollen haben, was Sie wünschen!“ sagte er wie nach kurzem Ueberlegen mit vibrirender Stimme. „Ich begreife jetzt, weshalb selbst die strenge, rauhe Frau Ilse so wenig mit dem ‚Haideprinzeßchen‘ auszurichten vermocht hat! … Nein, nein, so rasch sind wir nicht fertig!“ rief er, als ich nach einigen Dankesworten das Zimmer verlassen wollte. – „Es ist nicht mehr als billig, daß auch ich mir nun Etwas erbitten darf, nicht wahr? … Erschrecken Sie nicht, Sie sollen mir keine Hand geben“ – wie bitter und beschämend klang diese Beschwichtigung für mich! – „Ich will Sie nur bitten, eine Frage aufrichtig zu beantworten.“

Ich kehrte zurück und sah zu ihm auf.

„Habe ich mich nicht getäuscht – war es wirklich Ihre Stimme, die mich anrief, als ich in der Unglücksnacht von Dorotheenthal zurückkehrte?“

Ich fühlte, wie mir ein brennendes Roth über das Gesicht lief; aber ohne Zögern versetzte ich: „Ja, ich bin es gewesen – ich hatte Angst“ – ich verstummte, denn die Thür ging auf, und der alte Erdmann trat ein. … Mit dem Ausdrucke des tiefsten Verdrusses zeigte Herr Claudius auf ein Paket Briefe, die nach der Post getragen werden sollten. Der alte Mann hatte bereits ein Schreiben in der Hand, das er auf den Tisch legte, während er seine Umhängetasche mit den Geschäftsbriefen füllte.

„Von Fräulein Charlotte,“ sagte er, als er bemerkte, daß der Blick seines Herrn mit sichtlichem Befremden an dem kleinen Siegel des mitgebrachten Schreibens haftete.

„Der Brief wird erst morgen früh abgehen, Erdmann,“ sagte Herr Claudius kurz und nahm ihn an sich.

Währenddem hatte ich die Thür erreicht, und ehe er mich noch einmal anrufen konnte, stand ich mit heftig klopfenden Pulsen in der Hausflur. Ich athmete tief auf – der bärbeißige Alte war im glücklichen Moment eingetreten; um ein Haar hätte ich mich hinreißen lassen, Herrn Claudius zu bekennen, was ich an jenem Abend um ihn gelitten. … Was war das nur? Ich verlor allen Boden unter den Füßen; der alte Herr mit der blauen Brille – wie ein Phantom war diese anfängliche Vorstellung in alle Lüfte verflogen; und von Allem, was mir beim Eintritt in die neue Welt einen tiefen Eindruck gemacht, kam nichts mehr auf neben der imponirenden Erscheinung des „Krämers“.




27.

Ich huschte die Treppe hinauf nach den Gesellschaftsräumen. Drei aneinanderstoßende Zimmer – das Charlottens mit inbegriffen – waren stets behaglich erwärmt und beleuchtet. Die Thüren standen weit offen, und Herr Claudius liebte es, im Gespräch dann und wann langsamen Schrittes die Räume zu durchmessen. Der Kreis, der sich um den Theetisch versammelte, war ein sehr enger. Einige bejahrte Herren, sogenannte Respectpersonen, und Freunde aus alten Zeiten kamen ab und zu; mein Vater aber – sein „Gänseblümchen“ selbstverständlich auch – und der junge Helldorf waren stehende Gäste; auch Luise, die junge Waise und schweigsame Stickerin, fand sich ein. Dagegen hatte sich der Buchhalter ein für allemal dispensiren lassen mit der Entschuldigung, daß er alt werde und an kalten und nebligen Abenden den Weg durch die Gärten scheue; in Wirklichkeit aber hatte er unverhohlen ausgesprochen, die Physiognomie des Hauses Claudius sei eine so bedenkliche geworden, daß er wenigstens „seine Hände wasche“ und keinen Theil haben wolle an Dem, was der gegenwärtige Chef der Firma seinen Vorgängern gegenüber dereinst verantworten müsse.

Heute standen die Zimmer noch leer. Es war ein kalter Novemberabend; in den feinen Regen, der sich der Erde nahe in widrige Dunst- und Nebelwolken auflöste, mischten sich die ersten vereinzelten Schneeflocken, und rauhe Windstöße pfiffen durch die Gassen.

Bei meinem Eintreten in den Salon hantirte Fräulein Fliedner unter den klirrenden Tassen des Theetisches. Sie war erregt, die alte Dame, denn das Porcellan fuhr unter ihren Händen ein wenig confus durcheinander. … Charlotte beobachtete sie mit einem malitiösen Lächeln. Sie hatte sich in die Sophaecke geworfen, halb versunken in die metallisch glitzernden Wogen einer mit Bauschen und Volants überladenen grünen Seidenrobe. Ihre imposante Schönheit interessirte mich auf’s Neue – die prächtigen Formen dehnten sich so behaglich in den warmen, elastischen Polstern; dennoch fröstelte ich unwillkürlich unter der Einwirkung des Contrastes zwischen dem draußen vorüberfegenben rauhen Novemberwinde und den entblößten Schultern und Armen des üppigen Mädchens, die nur eine Fluth außerordentlich klarer Spitzen überrieselte.

„Ich bitte Sie um’s Himmelswillen, liebste Fliedner, seien Sie vorsichtig!“ rief sie mit affectirter Aengstlichkeit, ohne ihre nachlässig bequeme Stellung auch nur im Mindesten zu verändern. „Die selige Frau Claudius müßte sich ja in der Erde umdrehen, wenn sie wüßte, wie Sie mit ihren porcellanenen Erinnerungen an frohe Wiegenfeste, Familienjubiläen, und was alle diese kostbaren Inschriften sonst noch verherrlichen mögen – in diesem Augenblicke umgehen. … Die Sache ist nicht der Rede werth – zu was alteriren Sie sich denn? … Kann ich etwas dafür, daß mir diese Luise antipathisch ist? Und bin ich schuld, daß dieses Thränenweidengesicht stets aussieht, als wolle es Gott und alle Welt um Verzeihung bitten, daß es sich die Freiheit nimmt, überhaupt zu existiren? … Das Mädchen fühlt instinctmäßig, was ich ungezwungen ausspreche – sie gehört nicht in den Salon mit ihren Schulmeistermanieren. Es ist eine viel zu weit getriebene Humanitätsanwandlung des Onkels, ihr eine Stellung einzuräumen, zu der sie in keiner Weise berechtigt ist. … Du lieber Gott, ich bin auch kein Unmensch – aber was recht ist! – Guten Abend, Prinzeßchen!“

Sie reichte mir die Hand und zog mich neben sich auf das Sopha. „Da bleiben Sie hübsch sitzen, Kind, und fahren nicht immer wie ein Irrwisch durch die Zimmer!“ sagte sie gebieterisch. „Sonst setzt mir der Onkel abermals eine Nachbarin zur Seite, die mich mit ihrer ewigen Battiststickerei und dem groben Stahlfingerhut an ihrer Hand zur Verzweiflung bringt.“

„Einem dieser unerträglichen Uebel können Sie sehr leicht abhelfen,“ meinte Fräulein Fliedner gelassen. „Geben Sie Luise einen Ihrer silbernen Fingerhüte – Sie benutzen Sie ja doch nie –“

„Wenigstens sehr selten,“ lachte Charlotte auf und ließ ihre schlanken, weißen Finger vor den Augen spielen. „Ich weiß auch warum. … Sehen Sie, beste Fliedner, diese Nägel? … Sie sind nicht besonders klein, aber hübsch rosig und tadellos gebildet – auf jedem sitzt ein Adelsdiplom – glauben Sie nicht?“ Sie zog in geistreich ausdrucksvoller Weise die Oberlippe scharf zurück und zeigte impertinent lächelnd die ganze Reihe ihrer schönen Zähne.

„Nein, das glaube ich ganz entschieden nicht,“ versetzte Fräulein Fliedner erregt – das Roth des Aergers trat ihr in die Wangen „Die Natur giebt kein solches Diplom mit, das gegen die Arbeit feit, und auch jenes geschriebene Fürstenwort, dem eine wahnwitzige Vorstellung eine ähnliche Wandlungskraft wie die des Abendmahls verleiht, und in Folge deren ehrlich gesundes rothes Blut sich plötzlich in ein verkünsteltes blaues verändern soll – auch dieses Fürstenwort hat nicht die Macht, irgend

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_812.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)