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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

stechende Augen mich anstarrten. Ein Mann von mittlerer Größe stand mir gegenüber, in einen alten Winterpaletot und einen dichten Shawl eingehüllt, mit blauen Lippen und eingefallenen aschgrauen Wangen und am ganzen Körper vor Kälte schlotternd. Auf meine Frage nach dem Herrn des Hauses stellte er sich mir als solchen vor und fügte seinerseits die Frage bei, ob ich allein sei, ob ich keinen Burschen habe. Als ich Ersteres bejahte und Letzteres verneinte, konnte ich bemerken, wie durch seine Züge ein Ausdruck der Befriedigung ging, der mich befremdete. In gleichem Augenblicke hatte er schon die Thüre hinter mir in’s Schloß geworfen und die Riegel vorgeschoben und das Alles in einer so hastigen, vehementen Weise, als wollte er damit ausdrücken. „Nun bist Du in der Falle.“

In unangenehmer, serviler Haltung schritt er mir durch einen engen dunklen Gang voran und öffnete dann eine Thür. Das Zimmer, in das er eintrat, bezeichnete er als das meinige. Es kam mir daraus ein kalter und dumpfer Hauch entgegen. Trotz der vorgeschrittenen Dämmerung konnte ich noch einen vollständigen Ueberblick über die Umgebung des Hauses von der Rückseite gewinnen, denn nach dieser hin war das Zimmer gelegen. Von dem Fenster sah ich auf einen kleinen Hof, von da auf einen Garten, der, ganz abgesehen von der rauhen Jahreszeit, eine wahre Wüstenei war. Hohe Backsteinmauern bildeten von drei Seiten die Einfassung des ganzen Grundstückes und isolirten dasselbe von aller weiteren Umgebung in einer Weise, die den unheimlichen Eindruck, den Haus und Herr auf mich beim ersten Erscheinen gemacht hatten, noch bedeutend vermehrten. Links von meinen Fenstern und von denselben in einen rechten Winkel ausspringend lag eine Art Schuppen mit einem ansteigenden Dache, unter dessen Bodenräumlichkeiten wahrscheinlich Heu und Stroh aufbewahrt wurde. Der Zugang zu demselben geschah von außen durch einen erkerartigen Vorsprung; das sah man an der Leiter, die an diesen angelehnt war. Nachdem ich mich so orientirt hatte, konnte ich nicht umhin, meinem neuen Wirthe scherzend die Bemerkung hinzuwerfen, daß man hier wie in einen Kerker eingeschlossen sei. Treffender, wenigstens für mein Gefühl, wäre die Bezeichnung „Räuberhöhle“ gewesen. Mein Gegenüber, darob betreten, erwiderte:

„O, fürchten Sie nichts, Sie sind hier ganz sicher, es wird Ihnen nichts zustoßen.“

„Wie kommen Sie dazu, mir Das zu sagen?“ war meine Antwort, wobei ich ihn scharf fixirte. „Wenigstens war das nicht die Antwort auf meine Bemerkung, die nur im Scherze gemeint war. Ich bin nicht im Mindesten in Sorge darüber, daß mir etwas zustoßen würde. Ich schlafe bei offenen Thüren, ich habe weder einen Revolver, noch sonst eine Waffe bei mir, aber fünfzigtausend Soldaten sind vor uns, fünfmal so viel folgen uns, und wehe dem, der einem Deutschen auch nur ein Haar krümmte!“

„Wie, mein Herr,“ versetzte der Greffier, wie absichtlich von diesem Gegenstande ablenkend, „Sie wären nur dreihunderttausend Mann? O weh, dann wird es Ihnen schlecht gehen; dann werden Sie Alle dem sichern Untergange geweiht sein.“

„Wie so meinen Sie das?“

„O, unten an der Loire steht ein französisches Heer, eine Million stark, und das wird über Sie herfallen und Sie Alle, Alle vernichten.“

„So, also eine Million? Haben Sie schon eine Million Soldaten gesehen?“

„Das wohl nicht, aber –“

„Nun, ich auch nicht, und bis Sie sie nicht Alle gezählt haben, brauchen Sie sich auch nicht wegen uns zu beunruhigen.“

Die Armee des Prinzen Friedrich Karl war aber damals nicht dreihunderttausend, wie ich vorgab, sondern höchstens fünfzigtausend Mann stark, aber durch die geniale Art ihrer Verwendung, namentlich der Cavallerie als Avantgarde, hatte sie den Anschein der sechsfachen Anzahl, als sei sie ein Heer von Geistern, das Rast und Ruhe, überhaupt alle gewöhnlichen Bedürfnisse des Leibes nicht kenne, das durch die Lüfte angebraust käme, um im entscheidenden Augenblicke in den Gang der Dinge einzugreifen und den Lorbeer des Sieges zu erringen.

Mein Wirth war Greffier en retraite, das heißt, er hatte die Gerichtsschreiberstelle – derartige Aemter sind in Frankreich verkäuflich – ebenfalls erkauft und nach etwa fünfzehnjähriger Thätigkeit mit einem hübschen Profit wieder losgeschlagen, so daß er nun das Ziel französischen Strebens und Lebens erreicht hatte, im Besitze von hunderttausend Franken dreiprocentiger Rente war und nun einen Bruchtheil jener großen Classe in Frankreich bildete, die den größten Theil ihres Lebens in edlem Nichsthun verbringt, und natürlich vollkommen Muße hat, über alle Einrichtungen des Staates, der sie noch füttert, in allen Tonarten frischweg zu raisonniren. So auch mein Wirth; den Greffier hatte er abgegeben, aber die Schreiberseele war geblieben. Voll Neid und Bosheit begeiferte er Alles, was über ihm stand. Er sprach fast nur in Zischlauten, und wenn er durch das Zimmer ging, konnte er keine gerade Linie einhalten, sondern bewegte sich immer in Schlangenwindungen, dabei blitzten seine schwarzen, stechenden Augen und seine Lippen bewegten sich wie von leise gesprochenen Verwünschungen.

Ein würdiges Seitenstück zu dem Haupte der Familie bildeten die übrigen Glieder desselben, die Frau und der einzige Sohn von etwa dreizehn Jahren. Die Frau war klein, gelb und mager und ganz in spitzen Winkeln geschaffen; wenn sie sich bewegte, hatte man das Gefühl der Gefahr, von Stecknadeln gestochen zu werden; den Jungen hätte man als Azteken auf dem Jahrmarkte sehen lassen können. In dieser holden Gesellschaft saß ich nun bei Tische, und um das Maß der Unbehaglichkeit voll zu machen, mußte ich auch noch Kaninchen essen. Von allen französischen Quartieren ist mir keine so unangenehme Erinnerung geblieben, wie von dem eben geschilderten in Sens, und in keinem hatte ich auch eine solche, ich will nicht sagen schreckliche, aber wenigstens keine so unruhige Nacht verlebt, wie die zweite meines dortigen Aufenthaltes.

Bei Tische hatte mir mein Quartiergeber erzählt, daß sein Bruder Geistlicher in einem Dorfe in der Nähe von Sens sei; ich hatte von diesem Dorfe schon früher gehört und wußte, daß es in der Nähe von Sens liege; ich weiß indeß nicht mehr zu sagen, ob ich in dem großen Reisebuche über Frankreich von Joanne, oder in einer andern Quelle darüber gelesen hatte.

„Ah,“ bemerkte ich, „das ist ja dasselbe Dorf, in welchem sich eine berühmte in Holz geschnitzte Kreuzabnahme von einem alten Colmarer Holzschnitzer befindet.

„Woher wissen Sie das?“ frug mich mein Wirth fast erschrocken.

„Woher?“ sagte ich, „aus Büchern.“

„Diese Prussiens kommen hinter Alles,“ sagte er, halb in Schrecken, halb in Verzweiflung zu seiner Frau, wenn auch leise, so doch laut genug, daß ich es, Dank meinem guten Gehör, deutlich vernehmen konnte.

In der ersten Nacht schlief ich ganz gut, in der zweiten aber, die dem weiteren Vormarsche des Hauptquartiers voranging, wurde ich Nachts plötzlich durch ein Geräusch aus dem Schlafe geweckt. Als ich erwachte, war es momentan still, so daß ich glaubte, lebhaft geträumt zu haben, und mich auf die andere Seite legte, um wieder einzuschlafen. Jetzt wiederholte sich das Geräusch und ich konnte ganz klar zwei männliche Stimmen vernehmen; sie kamen vom Hofe her, die Personen konnten nicht weit von meinen Fenstern sein. Ich sprang aus dem Bette, um zu lauschen. Vorher wollte ich nach den Schwefelhölzern greifen, um durch einen Strich und eine momentane Flamme nach der Uhr zu sehen, denn ein Licht wollte ich absichtlich nicht machen; es wäre auch nicht möglich gewesen, es waren keine Schwefelhölzer da. In der vorhergehenden Nacht hatte ich einmal Licht gemacht, da standen sie auf dem Nachttische, jetzt waren sie weg, vielleicht aus Absicht. Draußen schlug die Uhr von der Kathedrale jetzt ein Uhr. Ich ging an das Fenster, um es zu öffnen, und das Zwiegespräch da draußen zu belauschen. Leise öffnete ich es. Vor den Fenstern waren noch Jalousien, so dicht geschlossen, daß der Blick nicht hinaus nach dem Hofe dringen konnte, hören jedoch konnte ich ganz gut, auch die Stimme meines Wirthes ganz deutlich unterscheiden, die andere Stimme war mir fremd.

„Reich’ mir den Helm des Soldaten hinauf! So! und nun liegt noch der Säbel und der Rock unten; gieb mir auch das herauf. Denn wenn diese Preußen auf die Spur kommen, wäre Alles verloren!“

Was war das? Was sollte das bedeuten? Ohne Zweifel versteckten sie Armaturstücke und jedenfalls solche von unseren Soldaten. Warum aber? In welcher Absicht? Darüber sollte ich nun nicht länger im Zweifel bleiben, oder wenigstens glaubte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_838.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2017)