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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

lieb geworden. Welches Opfer brachte sie, indem sie das Haus betrat, welches ihr unversöhnlicher Vater bewohnte! In völliger Flucht kam sie stets athemlos und mit heftig klopfendem Herzen an – die Furcht vor einer abermaligen Begegnung jagte sie. Die arme Verstoßene liebte trotz alledem ihren Vater innig und war tief bekümmert, als sie hörte, daß er seine gesammte Habe verpfändet habe, um die Missionsgelder herbeizuschaffen. Trotz aller Bemühungen war man dem Diebe nicht auf die Spnr gekommen. … Mir erschien der alte Buchhalter seltsam verändert; er grüßte mich jetzt bei jeder Begegnung und hatte sich sogar einige Male herbeigelassen, nach meinem kranken Vater zu fragen. Charlotte bestätigte meine Wahrnehmung; sie behauptete zornig, er gehe ihr und Dagobert aus dem Wege, „der alte Schwachkopf“ bereue entschieden, das Geheimniß seines Chefs verrathen zu haben, und werde schließlich – das sehe sie voraus – im entscheidenden Moment zu leugnen versuchen. … Das leidenschaftliche Mädchen litt unsagbar. Die Prinzessin war leidend, hielt sich seit jenem Abend fern von allem Geräusch des Hoflebens, und das Haus in der Mauerstraße schien für sie nicht mehr zu existiren. Was sollte nun geschehen? Mein abermaliger Vorschlag, Herrn Claudius selbst Alles zu sagen, wurde auch von Charlotte mit Entrüstung und der anzüglichen Bemerkung zurückgewiesen, der Blumenduft in meinem Zimmer umschmeichle und besteche mich. Ich schwieg von da ab auf alle Klagen.

Fünf Wochen waren seit dem Feuerunglück vergangen, und furchtbare Heimsuchung lag hinter mir. Mein Vater war längst außer Bett; er erholte sich auffallend rasch, war durch die Aerzte schonend von allen Vorgängen unterrichtet worden, und hatte sich zur Verwunderung Aller ziemlich schnell und leicht in die betrübende Thatsache gefunden, daß sein Manuscript Staub und Asche sei. Weit schmerzlicher berührte ihn die Nachricht, daß eine Anzahl kostbarer Bücher und Handschriften nicht habe gerettet werden können, daß die prachtvollsten Exemplare der antiken Thongefäße vernichtet seien, und wie man mit dem besten Willen das abgeschlagene Marmorhändchen des schlafenden Knaben nicht wieder aufzufinden vermöchte. Er vergoß Thränen des Schmerzes und konnte sich nur schwer darüber beruhigen, daß er der Welt und Herrn Claudius diesen nie zu ersetzenden Schaden zugefügt. Der Herzog besuchte ihn sehr oft; er wurde damit unmerklich wieder in das Fahrwasser seines gewohnten Denkens und Wirkens geleitet und hatte bereits zahllose Pläne und Entwürfe im Kopfe. … Mir begegnete er mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit – das Unglück hatte Vater und Tochter eng verbunden – er mochte mich nicht mehr missen; trotzdem versicherte er mir oft und ernstlich, er werde mich mit Beginn des Frühjahrs auf vier Wochen in die Haide schicken – ich sei zu blaß geworden und müsse mich erholen.

Es war ein trüber Märznachmittag. Zum ersten Mal wieder seit fünf Wochen wollte ich in das Schweizerhäuschen gehen; meine Tante hatte mir in einigen Zeilen Vorwürfe gemacht, daß ich sie, nachdem mein Vater doch genesen, so consequent vernachlässige. In der Halle stürmte mir Charlotte entgegen. Ich erschrak vor ihr – solch einen wilden Triumph und Jubel hatte ich noch nie auf einem Menschenantlitz gesehen. Sie riß ein Papier aus der Tasche und hielt es mir unter die Augen.

„Da, Kind!“ keuchte sie athemlos. „Endlich, endlich geht die Sonne über mir auf! … Ah! –“ Sie breitete die Arme weit aus, als wolle sie die ganze Welt an ihre Brust ziehen. „Sehen Sie mich an, Kleine – so sieht das Glück aus! … Heute zum ersten Mal darf ich sagen: Meine Tante, die Prinzessin! … O, sie ist doch gut, ja, sie ist grenzenlos edel! So sich selbst überwinden kann eben doch nur – der Edelgeborene! … Sie schreibt mir, sie will mich sehen und sprechen – morgen soll ich mich bei ihr einfinden. Seien unsere Ansprüche begründet – ah, ich möchte den sehen, der so frech wäre, sie anzufechten! – dann werde Alles geschehen, uns in unsere Rechte einzusetzen – sie habe bereits mit dem Herzog darüber gesprochen – hören Sie? mit dem Herzog,“ sie ergriff meinen Arm und schüttelte mich, „wissen Sie auch, was das heißen will? Wir werden als die Kinder der Prinzessin Sidonie anerkannt werden und als Familienglieder in das souveräne Haus eintreten.“ …

Ein Schauer lief durch meinen Körper – die Entscheidung war da.

„Wollen Sie die Angelegenheit wirklich zur Sprache bringen, so lange Herr Claudius noch leidend ist?“ fragte ich mit unsicherer Stimme.

„Ah bah – er ist ja nicht mehr krank. Die dicksten Hüllen sind von seinen Fenstern gefallen; er trägt einen grünen Schirm und hält sich heute zum ersten Mal in den ein klein wenig verhangenen Salons neben meinem Zimmer auf. Er hat sich den Privatspaß gemacht, Eckhof zu seinem Geburtstag in einem allerliebsten kleinen Portemonnaie die tausend Thaler Missionsgelder zu bescheeren, damit er seine Habe wieder einlösen kann. Der Alte war dermaßen zerknirscht, daß ich Todesangst hatte, er werde dem Onkel zu Füßen fallen und seine Ausplauderei uns gegenüber beichten – zum Glück fand er vor Rührung keine Worte. … Uebrigens bin ich hart geworden, hart wie ein Kieselstein – ich habe zu furchtbar gelitten in den letzten Wochen; auch von Dagobert mußte ich von früh bis spät die maßlosesten Vorwürfe über ‚das plumpe Anfassen der Sache‘ hören. … Ich kenne keine Rücksicht mehr; und wenn in dieser Stunde noch der Onkel vor die Schranken gefordert würde – ich rührte keinen Finger, es zu verhindern!“

Sie begleitete mich bis an die Gartenthür, dann sah ich sie wie einen Pfeil bergauf in das blätterlose Dickicht hineinstiegen – das Glücksgefühl, das ihr die Brust fast zersprengte, trieb sie auf den Berggipfel, von wo aus sie in die schrankenlos weite Welt hineinjubeln konnte, und ich wäre am liebsten umgekehrt und hätte mich in den dunkelsten Winkel der Karolinenlust verkrochen, um mein unsägliches Bangen, meinen Schmerz um Herrn Claudius, zu verbergen.

Ich schlüpfte vorläufig an Tante Christinens Zimmer vorüber – zu meinem Befremden scholl Hundegekläff heraus – und ging in das obere Stockwerk. In Helldorf’s Familienstube hatten sich stets meine stürmisch klopfenden Pulse gesänftigt. … Lauter Jubel empfing mich. Herr Helldorf streckte mir beide Hände entgegen, Gretchen umschlang meine Kniee, und der kleine Hermann saß auf dem Fußboden und krähte und strampelte mit beiden Beinchen und wollte genommen sein. Die kleine Frau aber nahm flugs die Kaffeemaschine aus dem Schrank, holte ein ganz speciell für mich aufbewahrtes Stück Kuchen herbei, und bald darauf saßen wir um den trauten Familientisch. … Dann und wann unterbrach eine kühne Coloratur – perlenreine Läufer und Triller – unsere Plauderei – Tante Christine sang, oder trällerte vielmehr drunten; das klang wundervoll; so oft sie aber einen Ton fest anschlug und aushielt, da that mir das Herz weh – die Stimme, die einst wohl von hinreißendem Klang gewesen sein mochte, war total gebrochen.

„Die Frau da unten muß sobald wie möglich einen Wirkungskreis erhalten – sie führt ein wahres Schlaraffenleben,“ sagte Herr Helldorf mit leichtem Stirnrunzeln. „Ihre Schule ist ganz vortrefflich, und ich habe mich erboten, ihr Schülerinnen zu verschaffen – sie kann sehr viel Geld verdienen, wenn sie will. Aber den Hochmuthsblick, das höhnische Lächeln, mit welchem sie mir ‚für gütige Protection‘ dankte, werde ich nie vergessen. Seitdem hat sie sich hier oben nicht wieder blicken lassen.“

„Blanche bellt – es kömmt Jemand, Mama,“ sagte Gretchen.

„Ja, Blanche – das ist auch ein neuer Bewohner im Schweizerhäuschen, der Ihnen vorgestellt werden wird, Lenore,“ meinte lächelnd Frau Helldorf. „Die Tante hat sich vorgestern einen reizenden, kleinen Seidenpinscher gekauft – Schäfer ist außer sich, er will das boshafte Thier nicht dulden.“ –

Sie schwieg plötzlich und horchte – starke Männerschritte kamen die Treppe herauf, schritten über den Vorsaal und verharrten da einen Augenblick. Frau Helldorf’s Gesicht war schneebleich geworden; sie stand da mit zurückgehaltenem Athem, starr wie eine Statue, und als sei es ihr unmöglich, auch nur einen Fuß nach der Thür zu bewegen, um sie zu öffnen. Da legte sich draußen eine Hand auf den Drücker, die Thür that sich auf, und ein hoher, stattlicher Mann trat zögernd auf die Schwelle.

„Vater!“ schrie die junge Frau – es war ein Schrei, schwankend zwischen herzzerreißendem Schluchzen und wonnevollem Jauchzen. Eckhof fing die Taumelnde in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust.

„Ich bin hart gewesen, Anna – vergiß es,“ sagte er mit schwankender Stimme.

„Sie hatte keine Antwort – sie vergrub nur immer tiefer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_848.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)