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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

dem stark gekräuselten Backenbart sah ein langes, fleisch- und blutloses Gesicht mit einer langen Adlernase heraus. Von seinen Schultern hingen Pavianarme herab, woran sehr lange dürre, aber schneeweiße Hände befestigt waren. Ich mußte unwillkürlich an Callot-Hoffmann’s Capellmeister Kreisler denken. Dann wieder, wie er so theilnahmlos, fremdartig, öde in die Versammlung blickte, schien es mir, als sähe ich den armen Jerusalemer Schuster Ahasverus, der wegen einer kleinen Flegelei gegen unsern Herrn Christus nun schon an die achtzehn Jahrhunderte, vergeblich den Tod herbeisehnend, auf unsrer Erde herumwandeln muß.

Er trug zuerst sein großes Es-dur-Concert vor. Das Ritornell begann. Seine Schultern waren hoch, aber beim Spiel zog er sie zusammen, daß sein Kopf auf einem Pfahl zu stecken schien. Dabei hielt er den Bogen, entgegen den Grundsätzen aller anderen Violinspieler, eng am Leibe, So leitete und durchblitzte er das Orchester während des Tutti mit einzelnen Tonfunken.

Was aber soll ich nun sagen von seinem Spiel! Sie hatten wohl Alle Recht mit der Bemerkung, daß man ihn hören müsse, weil es sich absolut nicht beschreiben ließ. Meyerbeer sagte später zu Castil[WS 1]-Blaze: „Stellen Sie sich die erstaunlichsten Wirkungen vor, die man auf einer Violine hervorbringen kann; träumen Sie von den Wundern des Bogens und der Melodie: Paganini wird Ihre Erwartung noch übertreffen.“

In einer französischen Gesellschaft, wo sich ein berüchtigter Geizhals befand, wurde für einen wohlthätigen Zweck gesammelt. Der Sammler kam aus Versehen zum zweitem Mal an den Geizhals. Dieser antwortete: „Ich habe schon gegeben, mein Herr.“ Der Andere erwiderte: „Verzeihung, ich habe es nicht gesehen, aber ich glaube es.“ Sehr rasch fiel ein witziger Nachbar des Harpagus ein: „Und ich habe es gesehen, aber ich glaube es nicht.“ So ging es mit Paganini. „Wer es nicht gehört hat, glaubt es nicht,“ sagten die Herausgehenden, und ein Referent schrieb: „ich habe es gehört, aber ich glaube es doch nicht.“

Und ebenso wenig vermögen eingehendere Beschreibungen, in die Specialitäten seiner unerhörten Künste einen nur annähernden Begriff von dem Wesen und der Wirkung derselben in der Wirklichkeit zu geben.

Denn was bedeuten Aussagen, wie: „man vernimmt auf seinem Instrumente außer den der Violine eigenthümlichen Tönen, wahre Naturlaute, die sich bald dem einfachen Vogelgesange, bald dem Schlage der Nachtigall oder dem silberhellen Glockentone annähern, bald flötend und leise verklingend sind wie ein Zephyr, bald aber auch stürmend in Doppelgriffen dahin rauschen und das ganze Orchester zu beherrschen scheinen.“ – Er brachte gewisse Gänge, Sprünge und Doppelgriffe, die man noch von keinem Violinspieler, wer er auch sei, gehört hatte. Er spielte die schwersten zwei-, drei- und vierstimmigen Sätze, er gab in den allerhöchsten Tönen ganz dicht am Steg die chromatische Scala rein und deutlich zu hören. Gleich im ersten Solo seines Es dur-Concerts kletterte er in einer Reihe vierstimmiger harpeggirter Accorde blitzschnell in die Höhe, wobei uns Geigern der Violinverstand gänzlich verloren ging, denn es war selbst auch für den eingeweihten ein undurchdringliches Räthsel. Die größten Violinspieler bildeten sich viel ein, wenn sie leichte Sätzchen im Flageolett anzubringen wußten. Paganini brachte es in den mannigfaltigsten, ganz ungeahnten, kühnsten und ungewöhnlichsten Formen zur Anwendung. In der Sonate militaire ließ er auf einer – der G-Saite – vermittelst des Flageoletts beinahe den ganzen Tonumfang aller vier Saiten hören, so daß man, nicht hinsehend, vergaß, daß er alles das wirklich nur auf der einen Saite ausführte. Unbegreiflich auf der vollbesaiteten Violine waren die Doppelgriffe für Terzen-, Sexten-, Octaven-, Doppeltriller- und Decimen-Passagen in pfeilschneller Geschwindigkeit, Läufen in Sechszehntheiltönen, wovon die eine immer pizzicato, die andere coll’ arco (mit dem Bogen) hingezaubert wurde. Er brachte die lieblichsten Klänge so nahe am Stege vor, daß der Bogen zwischen diesem und dem Finger kaum Platz finden konnte. Das Wundervollste war, daß er mit der linken Hand ein überraschendes Pizzicato griff, während er das angefangene Spiel nebst allen dabei vorkommenden Schwierigkeiten ungestört fortsetzte, ja, er trug sogar in einigen der schnellsten, von der Höhe bis zur Tiefe hinabrollenden Läufen, abwechselnd immer die Noten im Pizzicato, und immer in langen Bogenstrichen vor. Wenn man nun nach dem Vortrage des Concerts und der Sonate auf der G-Saite glaubte, seine Künste seien zu Ende, er könne nun unmöglich noch Neues bringen, so wurde auch dieser Glaube Lügen gestraft, denn in den Variationen über „Nel cor più non mi sento“, die er zum Schluß, vom Orchester unbegleitet, gab, tönten neue unbegreifliche Wunder auf. Ohne Orchester besorgte er die Begleitung selbst. Da waren zu hören ganze vierstimmige Sätze. Eine Variation war durchgängig dreistimmig gesetzt, indem er die Melodie durch ein tremulirendes Accompagnement begleitete; ferner kam eine Variation, durchgängig mit Springbogen, die einer sprühenden Tonfontaine glich. Er hielt ein Thema auf der E-Saite, während er sich zugleich auf der A-, D- und G-Saite dazu accompagnirte. Ein ander Mal hielt er auf einer Saite den Ton einen – zwei – und drei Tacte hindurch, während er zugleich Läufe und Pizzicato auf den andern Saiten vortrug. Alles dieses, ach, und vieles Andere noch, trug er durchgängig, ohne daß ihm nur ein einziges Tönchen mißlungen wäre, mit spielender Leichtigkeit und reinster Intonation vor.

Dies alles war seine Technik, die höchste, vollendetste, welche jemals ein menschliches Ohr vernommen. Aber diese zauberhafte Technik war doch nur die Verkünderin seiner glühenden Seele. In seinem Spiele wechselten Ernst und Scherz, Tiefsinn und Tändelei, tragische Zerknirschung und gaukelnder Humor auf die schönste Weise mit einander ab. Am treffendsten hat sich darüber André ausgesprochen, aus dessen Aufsatz im „Hesperus“ ich das Folgende entlehne.

„Ist Paganini Tonkünstler im höheren Sinne, in eigener Art? Ich glaube, gänzlich abgesehen von seinen unglaublichen mechanischen Fertigkeiten und Künsten, die Frage bejahen zu müssen, weil er seinem Vortrage eine Seele, wie Keiner, zu geben weiß. Dieses Seelische ist es, was bei zarteren Gemüthern so unbeschreiblich einwirkt, was seinem Tone jene eigenthümliche Charakteristik giebt und deshalb unnachahmlich bleiben wird, weil er nur seine Seele reden läßt, nur sein Ich ausspricht. Er hat nämlich seine Violine zum Sprechorgan seiner innersten Empfindungen und seines eigenthümlichen Gemüths- und Bildungszustandes gemacht. Was in seinem Innern vorgeht, drückt das Instrument mit seltener Wahrheit, Treue und Innigkeit aus. … Dürfen wir von seinem Spiele auf den Zustand seines Innern zurückschließen, so streiten darin (wenn auch nur in der Rückerinnerung) die stürmischsten Leidenschaften mit den tiefsten, zärtlichsten Gefühlen, herbste Leiden mit den beseligendsten Freuden, schwarze Misanthropie mit kindlicher Gutmüthigkeit. Und soll ich Alles in einen Begriff fassen, so würde ich sagen: ein zerrissenes Gemüth macht sich Luft.“

Man kann sich denken, welchen Spectakel der Zauberer auch bei uns erregte. Der Beifall unseres sonst stets in den Grenzen der Mäßigung bleibenden Publicums stürmte wie brausende Meereswogen durch das Haus, und den Ruhigsten riß das Entzücken fort. Er wußte, daß der Künstler empfinden müßte, um bei Andern Empfindungen zu erwecken. Zu seinem Motto hatte er gewählt: „Man muß stark empfinden, um Empfindungen hervorzurufen.“ In Bezug auf den Eindruck seines Spiels auf’s Herz schrieb aber Holtei in seiner drastischsten Weise: „Paganini hatte in Weimar gespielt, und auch dort, auf seinen vier elenden Saiten wimmernd, den Menschen die Herzen im Leibe umgedreht.“

Als ein armer kränklicher Mann von schwächlichem Körperbau trat er an die Lampen, sobald er aber seine Geige ansetzte, den Bogen erhob und zu spielen begann, schien eine Riesenkraft, die nur in ihm geschlafen hatte, zu erwachen, die Nerven, Muskeln, alle Glieder wurden stark, straff, gespannt, alles war Geist, Kraft und Leben in und an ihm.

Wie ist er so groß, so einzig geworden? Darüber müssen wir seine Lebensgeschichte befragen.

Paganini wurde den 18. Februar 1784 zu Genua geboren. Sein Vater war ein nicht besonders bemittelter Geschäftsmann, der die Musik leidenschaftlich liebte und trieb, „mit wenig Talent, aber viel Behagen“. Bald erkannte er des Sohnes Naturanlage, und lehrte ihn die Anfangsgründe auf der Violine. Er war ein hartstrenger Mann, der den Knaben den ganzen Tag an die Violine zwang, und ihn, wenn er ihm nicht fleißig genug schien, zur Verdoppelung seiner Kräfte durch Hunger antrieb.

Im neunten Jahre ließ sich der junge Virtuose zum ersten Male in seiner Vaterstadt Genua öffentlich in einem Concert unter den unerhörtesten Beifallsstürmen des enthusiasmirten Publicums

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Cafil
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_010.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)