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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Pancratius und Servatius; Alles, Alles miteinander erfror, nur der Haß der Rückwärtsmänner nicht. Schreck, Entrüstung, Verrath; die Spreu flog haufenweise vom Weizen, am bedauerlichsten in Treuen. Der Kern blieb fest, mit ihm Böhme. Schon waren die meisten Gefängnisse unten im Lande angefüllt; fast alle Voigtländer waren noch frei oder auf Ehrenwort entlassen – Maikäfer am Schnürchen.

Da sammelten sich noch einmal die Männer jener rauhen, aber frischen Berge des Voigtlandes im Schützenhaussaale zu Plauen. Sie kamen herniedergestiegen in’s lieblich milde Elsterthal, sie wollten noch einmal das Wort erheben für die deutsche Reichsverfassung. Auf dem Präsidentenstuhle thronte der greise ehrwürdige Cantor Finke von Plauen (später zu fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt). Die Meisten, die ihn umgaben, hatten, um zu kommen, einer speciellen polizeilichen Erlaubniß zum Reisen bedurft, da sie fast Alle „eingegrenzt“ waren. Keiner war sicher, sofort abgeführt und eingesteckt zu werden „bis auf Weiteres“, wie damals der weise Spruch der trefflichen Specialuntersuchungsrichter lautete.

Böhme und ich waren auch gekommen, wir wandelten in’s Freie; in einem Wirthshaus da kehrten wir ein und tranken, im Vorgefühle unserer Schicksale, ein Glas auf’s Wiedersehen. Wenige Zeit darauf saßen wir alle Beide

„Hinter düstern Wällen,
Hinter ehrnem Thor.“

Böhme wurde, nach langmonatlicher Untersuchungshaft, zu zehn Jahren Zuchthaus in Eisen verurtheilt, durch seine Tochter Selma aber mittels eines guten Dietrichs befreit. Selma hatte den Gefängnißschlüssel in Glaserkitt abgedrückt und Schlosser gab es damals genug, die solche Festungsschlüssel nachmachten. Es war dies im ersten Winter, wo Haft und Aufsicht noch eine ziemlich gemüthliche war, später ward’s „besser“! Angst und Gefahr schwand unter Aengsten und Gefahren dahin; die Reiseroute lautete: über Treuen in die Schweiz! Polizei und Soldaten trennte oftmals nur eine dünne Wand vom Gesuchten. Von Nürnberg reiste Böhme bis Augsburg, im traulichsten Gespräch mit vier bairischen Officieren, incognito. In Kempten, droben im Allgäu, bestand damals, wie an vielen anderen Orten, eine demokratische Auswanderungsgesellschaft, eine Art Schifferzunft, welche die flüchtigen Hochverräther per Achse nach dem Bodensee transportirte und hinter Lindau herum in Tell’s uraltem Befreiungsnachen über das schwäbische Meer spedirte mit dem Wahlspruch:

„Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen!“

Dort bei dem kühnen Zunftmeister jenes wohlorganisirten Demokraten-Casinos, im versteckten Stübel, bei einem guten Glas Bier, verlebte Böhme die letzten schönen Stunden auf Deutschlands Erde.

Es war

„im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,“

des Jahres 1852; auch ich war in Arkadien geboren! das heißt, auch ich hatte, nach langem Zögern, 1851 den Ausbruch aus einer der Frohnvesten Sachsens, Adorf, gewagt; auch mich hatten die damaligen Gesetzesausleger mit zwölf Jahren Zuchthaus erster Classe, Kette und Klotz, bedacht und einigen Monaten Knochenzugabe. Alles von wegen der verpönten Reichsverfassung, die man zwanzig Jahre später mit siebenhunderttausend Mann, den Kaiser an der Spitze, aus Frankreich heimholte, nach Milliarden Opfern an Blut und Leben und Vermögen! 1849 war noch ein Mißverständniß und die Beusts und Manteuffels waren keine Bismärcker.

Ich aber schaukelte, ein Gast der freien Schweizerberge, bei romantischem Mondenschein, wie sich solchen ein deutscher Jüngling nicht schöner denken kann, auf den krystall-, gold- und silberblitzenden Wellen des Bodensees, in einer Nußschale von einem Schiffchen, nahe dem uralten Hafenstädtchen Arbon. Der Thurgau lag mit seiner ganzen Obstwald-Blüthenpracht unmittelbar vor mir, nahe und doch in nebelgrauer Mondferne. Durch die Weingelände am Ufer flüsterte friedlich und freundlich die Seeluft; von einem alten grauen Thurme brummte die Glocke neun Uhr. Ganz wie die Einleitung zu einem idyllischen Romane. Der Fährmann war kein Hexenmeister in der Kunst zu rudern und zu landen. Er fand nicht einmal den rechten Hafen dieser uralten Seestadt und setzte mich, mir nichts, dir nichts, bei einem Fußweg an’s Land. Da stand ich in einem prächtigen Baum- und Blumengarten, wie in einem Zaubermärchen. Vom nahen Hügel, aus weinumrankter Hütte, tönte Lautenklang und Frauensang dem irrenden Ritter entgegen.

„Da half kein Zittern, da half kein Zagen!“

Links und rechts hemmende Hage, vor mir verführerischer Sirenensang; ich verstopfte die Ohren keineswegs, ging frisch drauf los, stellte mich den erstaunten Gesichtern einiger hübschen Mädchen als fremder Irrwisch vor, der soeben aus dem tiefen Meere emporgetaucht sei, und wurde von ihnen, wenn auch nicht gastfreundlich zu der Väter Burg geführt, so doch auf den rechten Weg in’s Städtli und zum Städtli hinaus, nach dem Bade Horn zu.

Auf jenem Horn aber, ihm ein Cap der Hoffnung, hatte sich still und friedlich der weiland Organist von Treuen mit seiner Tochter Selma niedergelassen, und wenn ein Studentenscherz über vergangene Nothjahre eines Mannes erlaubt ist, so konnte man damals von ihm singen:

„Er büßt die Schuld im fernen Land
Als … Tabaksfabrikant.“

Böhme und seine Selma fabricirten Cigarren. –

Es ist seit jenem ersten Wiederfinden im Asyl manch langes Jahr vergangen. Böhme wurde später Agent verschiedener Handelshäuser und nahm in St. Gallen, als Tapetenhändler mit Frau Hajek associirt, eine allgemein geachtete Stellung ein. Wir haben als alte Voigtländer treu und fest zusammengehalten, uns oft besucht, viel Freud’ und Leid miteinander getheilt und lebten oft im Geiste wieder draußen in unseren dunkeln Schwarzwäldern, der Heimath, bei all den Braven, die der Sache treu geblieben, ohne daß es uns gelüstet hätte, wieder bleibend heimzukehren.

Ich hatt’ einen Cameraden,
Einen bessern find’st Du nit!

Da – es war wiederum „im wunderschönen Monat Mai“ –, 1864, vierunddreißig Jahre nach der Revolte zu Treuen, die Wellen kräuselten, die Lüfte säuselten, als zu mir, weit in’s Solothurner Land hinein, ein schwarz berändertes Brieflein geflogen kam: „Karl Böhme ist gestorben!“ Eine heftige Lungenentzündung hatte den alten Gardisten der deutschen Einheit und Freiheit, ungeahnt und plötzlich, zur großen Armee beordert.

Vergangenen Sommer besuchte ich den anspruchslosen, aber recht freundlichen Kirchhof zu St. Manz, fast mitten in der Stadt St. Gallen. Es war einundzwanzig Jahre nach Böhme’s Flucht. Deutschland war inzwischen einig geworden und hatte eine Reichsverfassung erhalten. Wenn auch nicht im Sinne von 1849, so hatte doch das Jahr 1870 das ganze deutsche Volk einmal einig gesehen, und die Entwickelung der Völker schreitet nur langsam voran. Es sind seit 1830, seit den Tagen des Aufruhrs von Treuen, allwo Böhme seine erste Volksrede gedonnert, immerhin politische Riesenschritte nach vorwärts gemacht worden von Deutschland wie von keinem andern Lande. Möge das deutsche Volk nun auch dieses „Helden der Schule“ nicht vergessen, der sich still gebettet in St. Manz unter einer Trauerweide, unter einem wärmenden, himmelblaugeblümten Teppich von Immergrün und einem dunklen Felsenblocke aus dem Rheinthal. Ja, aus dem Rheinthal! vom wunderlieben Rhein! rebenumkränzt, felsumstarrt, dort, wo er noch ein unbesonnener Jüngling ist und manchmal im jugendlichen Uebermuthe breite, sonnige Thäler überfluthet, wie böse Schicksale Völker und Länder, während er weiter unten mit männlicher Klarheit Völker verbindet, Lasten des Lebens trägt und Strudel und Untiefen überbrückt und ruhig die Pfade wandelt, die ihm die Gesetze vorschreiben, bis er am Ende seiner Tage als alter Kerl im Sande verrinnt, wie wir Alle! Vom Rheine, wo gegenüber der kleinste deutsche Staat Lichtenstein an den Alpen klebt wie ein heimliches Schwalbennest! Vom Rheine, dem gefeierten, stammt der Grabstein unseres „deutschen Böhme“. Und auf diesem Grabsteine steht geschrieben:

Hier ruhet
Karl Böhme.
Geb. am 9. Hornung 1809 zu Göhrlitz
im Königreich Sachsen
Gest. den 11. Mai 1864 zu St. Gallen.
Verbannt aus seinem Vaterlande, weil er für des
Volkes Rechte gestritten, fand er im Lande der
Freiheit ein Asyl und ein Grab.
Fritz Rödiger.




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