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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Weib, verliere den Muth nicht, den Du bisher bewiesen! Vielleicht entrinnen wir noch dem Schicksal, das uns bedroht.‘

‚Was aber beginnen?‘ fragte ich.

‚Ich bin in diesem Augenblick so erschöpft, daß ich keinen Entschluß zu fassen vermag,‘ antwortete er. ‚Laß mich ein wenig ausruhen. Wir werden dann sehen, was zu thun ist.‘

Er warf sich auf’s Bett und schlief bald ein.

Es dauerte aber nicht lange, so hörte ich wieder Fußtritte auf dem Flur. Die Häscher waren ihm auf den Fersen gefolgt, und schon traten sie in den Salon. Der elende Mouchard, der bereits in der vorigen Nacht und am heutigen Morgen die Patrouille begleitet und mich so roh angefahren hatte, trat vor mich mit den Worten: ‚Oeffnen Sie alle Thüren!‘

In diesem Augenblicke trat mein Mann aus dem Schlafzimmer.

‚Wen suchen Sie, meine Herren?‘ fragte er.

Der Häscher nannte den Namen meines Gatten.

‚Hier bin ich,‘ antwortete dieser. ‚Was wollen Sie?‘

‚Daß Sie uns folgen!‘ sagte Jener.

Ich wollte meinen Gatten nicht ohne mich gehen lassen, und so wurden wir Beide unter dem heftigsten Regen auf die Mairie des sechsten Arrondissements geführt. Dort angelangt, sagte er vor den Richtern: ‚Wie der Richterspruch auch ausfallen mag, ich will vor der Entscheidung mich mit diesem Weibe, das mir so oft die schönsten Beweise unerschütterlicher Treue gegeben hat, trauen lassen. Ich bestehe darauf.‘

Sie beriethen einen Augenblick und beschlossen, ihn nach dem Luxembourg abführen zu lassen. Ich wollte ihn auch dahin begleiten; doch dies ward mir nicht gestattet. Ich war außer mir vor Schmerz, da ich fürchtete, sie beabsichtigten gleich nach meiner Entfernung das Todesurtheil an ihm zu vollziehen. Ein Mitglied des Kriegsgerichtes, der Capitain B., suchte mich zu beruhigen. ‚Sein Todesurtheil ist ja noch nicht gefällt,‘ sagte er; ‚vielleicht wird es auch im Luxembourg nicht gefällt werden. Sollte dies jedoch geschehen, so wird man Sie davon in Kenntniß setzen. Seien Sie besonnen,‘ schloß er; ‚ich gebe noch nicht alle Hoffnung auf.‘

Kaum war ich eine Viertelstunde in meiner Wohnung, als ich nach dem Luxembourg gerufen wurde. Ich fand dort meinen Mann, der inzwischen zum Tode verurtheilt worden, in einer unterirdischen Zelle auf einer Strohmatratze sitzend. Ein Oellämpchen flimmerte in einer Ecke. Er schloß mich in die Arme und sagte: ‚Mein Todesurtheil ist gefällt; doch wird es vor morgen früh nicht vollstreckt werden. Wir haben eine ganze Nacht vor uns. Sei fest und standhaft, wie Du bisher gewesen. Ich werde zu sterben wissen, und Deine Geistesgegenwart wird mir den Tod erleichtern. Ich bin mir keiner Schuld bewußt; ich habe mich, wie Du weißt, an keinem Verbrechen der Rasenden betheiligt, welche die Freiheit auf Ruinen und Leichenhaufen zu gründen wähnten. Du warst mir treu und ergeben bis zum Tod; ich danke Dir. Nun setze Dich neben mich und lass’ uns alle Angelegenheiten, die Deine künftige Lage betreffen, genau überlegen. Ich habe den Notar, ich habe den Maire bestellt; Beide werden vor der entscheidenden Stunde eintreffen.‘

Er rückte den Stuhl an’s Lager, schrieb zuerst sein Testament, sodann einen Brief an seinen Vater, dem er mich dringend empfahl. Nachdem er noch einige Briefe an verschiedene Freunde gerichtet, sagte er: ‚Die letzten Worte, die ich schreibe, magst Du zum Andenken an diese Stunde aufbewahren.‘ Er nahm ein Blatt und schrieb einige Zeilen, in denen er seine Gedanken über die Lage Frankreichs äußerte.“

Sie erhob sich vom Sessel, holte das Blatt herbei und überreichte mir dasselbe mit den Worten: „Lesen Sie und überzeugen Sie sich, wie sehr er sein Vaterland liebte.“

Ich bewunderte indessen viel weniger den Inhalt, als die festen kräftigen Schriftzüge, an denen man sah, daß, der sie auf’s Papier geworfen, die Todesstunde nicht fürchtete.

Sie setzte sich wieder in den Lehnsessel und fuhr fort: „Er faltete die Papiere und sagte dann, indem er meine Hand faßte, die er nicht mehr aus der seinigen ließ: ‚Nun ist Alles in’s Reine gebracht und ich gehöre nun ausschließlich Dir an.‘

Todesstille herrschte überall; nur der fortwährend heftige Regen klatschte an die vergitterten Luken.

‚Ich würde noch heiterer sterben,‘ sagte er lächelnd, ‚wenn schöneres Wetter wäre. Das ist kein Maiwetter; das ist ein Novemberwetter. Es scheint wahrlich, als ob der Himmel selbst über das furchtbare Schicksal weinte, das unser armes Vaterland heimsucht.‘

Gegen sechs Uhr Morgens trat der Notar in die Zelle. Mein Gatte stellte ihm das Testament zu und ertheilte ihm mehrere Aufträge. Kaum hatte der Notar die Zelle verlassen, als der Maire eintrat und die Trauung vollzog. Tony dankte dem Maire auf’s Herzlichste, und als dieser geschieden, rief er, indem er mich umarmte: ‚Du bist nun auch vor der Welt meine Gattin und wirst von nun an meinen Namen tragen;‘ dann fügte er mit unbeschreiblicher Wehmuth hinzu: ‚Lucie, meine theure, theure Lucie, Du trägst ein zweites Dasein unter dem Herzen. Schone Dich, damit Du einst in der Erfüllung süßer Mutterpflicht den schönsten Lebenszweck findest und Dich dabei dessen erinnerst, der bald nicht mehr sein wird.‘

Ich war eben im Begriff, einige Worte zu erwidern, als eine Seitenthür, die ich bisher nicht bemerkt hatte, sich öffnete und ein Geistlicher aus derselben trat. Er winkte mir, sich ihm zu nähern, und trat mit mir in die Nebenzelle, in welcher er die ganze Nacht zugebracht hatte, ohne daß wir Beide es gewahr wurden.

‚Mein Kind,‘ sagte er sanft, ‚Sie haben in dieser furchtbaren Stunde den Bund mit Ihrem Gatten durch die weltliche Obrigkeit vollziehen lassen; thun Sie noch einen Schritt zu Ihrem Heile und zum Heile dessen, der bald vor Gottes Richterstuhl treten wird. Lassen Sie – ich bitte, ich beschwöre Sie – lassen Sie den Bund auch durch die Kirche besiegeln.‘

‚Ehrwürdiger Herr,‘ antwortete ich, ‚nehmen Sie meinen Dank hin für Ihre Theilnahme, und grollen Sie mir nicht, wenn ich auf Ihren Wunsch nicht eingehe. So viel Schwächen und Gebrechen ich auch haben mag, Heuchelei und Lüge sind meinem Herzen immer fremd geblieben. Ich finde den Schritt, den Sie mir so dringend anempfehlen, nicht nöthig zu meinem Seelenfrieden; ja, ich würde gegen meine Ueberzeugung handeln, wenn ich ihn thäte. Indessen gehöre ich nicht mir an; ich hänge von dem Willen meines Gatten ab. Was er mir räth, werde ich ohne Weiteres befolgen.‘

Tony billigte die Antwort, die ich dem Geistlichen gegeben.

Alle diese Scenen rollten sich viel schneller ab, als ich sie Ihnen erzähle, und kaum hatte sich der Geistliche wieder zurückgezogen, als ein Officier eintrat.

‚Ich bin zu Ihren Diensten,‘ sagte mein Mann. ‚Zwölf Kugeln, glaube ich, werden genügen; wo nicht, lassen Sie mir, ich bitte, in’s Herz schießen. Und nun lebe wohl, lebe für immer wohl, meine gute, theure Lucie!‘ Er umarmte mich, und als er mich zittern und beben sah, rief er: ‚Muth, mein Kind! Mache Deinem Tony das Herz nicht schwer!‘

Er kehrte, als er an der Thür war, wieder zurück, drückte mir noch einen Kuß auf die Lippen und sagte: ‚Dieser Kuß ist für meinen edeln Vater, der mir den Kummer verzeihen mag, den ich ihm verursacht habe.‘

Er hatte kaum die Zelle verlassen, als ich trotz aller Anstrengung, meinen Schmerz zu verbeißen, einen heftigen Schrei ausstieß. Ein Aufseher trat aber sogleich zu mir und drohte, daß man mich sogleich abführen würde, wenn ich nicht das tiefste Schweigen beobachtete.

Ich biß die Zähne zusammen, faßte mit beiden Händen das Gitter und horchte und horchte. Ein kalter Schauder packte mich, als ich die Schüsse hörte. Es war geschehen. Links am Eingang der Allee des Observatoriums, an der Mauer, wo der marmorne Löwe steht, fiel er Sonntag den achtundzwanzigsten Mai Morgens um sieben Uhr.

Wie ein dichter Schleier senkte es sich über meine Augen und ich stürzte zusammen. Ein Mann, ich weiß nicht, welches Amt er versah, raffte mich auf, suchte mich zu beruhigen und sagte, daß er den Befehl habe, mich nach meiner Wohnung zu führen.

‚Aber wo ist der Leichnam meines Gatten?‘ rief ich. ‚Ich gehe ohne denselben nicht von hier.‘

‚Madame,‘ sagte der Mann, ‚beruhigen Sie sich und verlangen Sie nicht, den Leichnam jetzt zu sehen. Ihre Kräfte sind zu sehr erschöpft, als daß Sie den Anblick desselben ohne Gefahr für Ihr Leben ertragen könnten.‘

All mein Bitten und Flehen half nichts. Er faßte mich unter dem Arme und führte, oder vielmehr zog mich, von fünf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_047.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)