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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Nach dem Berge zu,“ rief er. „Hüten Sie sich, daß Sie nicht hineinfallen!“

Ich ging ungefähr so weit, wie er gesagt hatte, stieß den Stock durch den Schnee – es war alter Winterschnee, über eine Elle dick – und kam auf hartes Eis. Ich rückte einen Schritt vor und stieß durch – abermals Eis; das dritte Mal fand ich den Hohlraum der Kluft und ließ den Stock auf- und abwärts spielen.

„Können Sie den Stock sehen? Ist es hier recht?“

„Ja, da ist es ganz recht, da stoßen Sie durch,“ rief es durch den Schnee.

Es war die Arbeit eines Steinschlägers, ein Loch war gemacht, ein zweites entstand daneben; nun wurden durch seitliche Bewegungen des Stockes beide zu einem verbunden. Der Schnee war furchtbar hart, die Arbeit ging mühsam vorwärts. Nun hatte ich durch vier verbundene Oeffnungen einen kurzen Spalt hergestellt. Einen Fuß davon entfernt entstand ein paralleler. Beide wurden verbunden, ein ganzer Klumpen Schnee fiel hinunter, eine Oeffnung war da, die ich mehr und mehr erweiterte. Jetzt hörte ich seine Stimme wieder, sie klang deutlicher; er mußte fast senkrecht unter der neuen Oeffnung stehen.

„Ist die Oeffnung weit genug? Ich werde zuerst den Sack anbinden.“

„Ja, sie ist weit genug.“

„Dann lassen Sie das Seil hernieder.“

Ich hatte mich losgebunden, um freier arbeiten zu können. Jetzt legte ich das Seil mit einem Schifferknoten um den Stock, den ich bis auf das Eis in den Schnee getrieben hatte und ließ das freie Ende hinunter.

Nach einer Weile rief er: „Ich habe das Seil!“ und dann wieder nach einer Weile: „Jetzt ziehen Sie den Packen herauf!“

„Halt, Andreas, trinken Sie zuerst Wein!“

„Nein,“ kam die Antwort zurück, „hier unten trinke ich keinen Tropfen! Ziehen Sie!“

Ich zog, der Packen rückte langsam in die Höhe; ich hätte aber nie gedacht, daß ein Gegenstand ein solches Gewicht haben kann. Das Seil schnitt am Rande der Oeffnung tief in den Schnee. Endlich erschien der grüne Sack an derselben; aber hindurch ging er nicht, weil er sich an der Schneekante sperrte.

„Ich muß noch einmal nachlassen, der Schnee hindert noch.“

„So lassen Sie nach!“

Er kam nicht bis unten, sondern blieb in halber Höhe stecken.

„Er sitzt gut,“ rief Andres. Ich faßte Seil und Stock mit beiden Händen und erweiterte.

Wiederum brachte ich ihn bis an den Rand, vergeblich; die träge Masse fand an dem kleinsten Körnchen Schnee ein Hinderniß. Er mußte noch einmal hinunter; erst das dritte Mal kam er heraus, nachdem ich die Kante des Eises ganz frei gelegt hatte.

Da lag er oben. Mir war’s nicht anders, als wäre schon ein halbes Menschenleben dem Eise entrissen.

„Ich habe ihn oben!“ rief ich.

„Jetzt trinken Sie einmal Wein und stärken sich!“ rief Andres.

Er hatte Recht. Als ich daran dachte, was noch zu thun bliebe, war mir’s, als wollten mich die Kräfte verlassen. Der Wein stärkte mich wunderbar. Als ich getrunken hatte, rief Andres von Neuem:

„Die Kluft ist hier noch zu breit; hier kann ich nicht herauf. Gehen Sie noch zwei Klafter aufwärts und schlagen ein neues Loch!“

Ich that, wie er gesagt. Ich suchte die Spalte weiter oberhalb auf – sie beschrieb in ihrem Verlaufe einen Bogen – und stieß durch den Schnee.

„Sehen Sie den Stock?“

„Da ist es recht.“

Und ich arbeitete von Neuem darauf los, diesmal schon mit Erfahrung, so daß, wie ich glaube, in kürzerer Zeit als das erste Mal eine Oeffnung entstand. Ich ging gleich in schräger Richtung hinein, so daß der Rand des Eises freigelegt wurde.

Er fing an zu rufen: „Ist die Oeffnung noch nicht fertig, noch nicht weit genug?“

Er mußte von Neuem den Ort gewechselt haben und wiederum unterhalb der neuentstandenen Oeffnung stehen. Die Stimme klang näher, aber dringend und ängstlich. Meiner Ansicht war sie weit genug, um einen Menschen von gewöhnlichen Proportionen durchschlüpfen zu lassen. Bei seiner Schulterbreite konnten freilich ein paar Zoll mehr in der Weite nichts schaden; aber er befand sich in der höchsten Noth. Vielleicht merkte er, daß seine Kräfte schwanden, oder die Kälte überwältigte ihn.

„Jetzt ist’s gut!“ rief ich und stieß noch eine Schneekante herunter. Das Seil wurde wie vorhin um den Stock gelegt und hinabgelassen.

„So kann ich das Seil nicht fassen,“ rief er, „Sie müssen es mir zuwerfen.“

Ich legte mich flach auf den Schnee und warf das zusammengenommene Seil hinunter in die Kluft, dahin, von wo seine Stimme kam. Er faßte es glücklich und eine Minute später rief er:

„Jetzt ziehen Sie mit allen Kräften!“

Ich hatte mir mit den Absätzen Tritte in den Schnee geschlagen, um nicht auszugleiten, wickelte mir das Seil um die Hände und zog, indem ich mich nach hinten überlegte.

Das war kein lebloser Gegenstand mehr, der unten hing, sondern ein Mann; das merkte ich, indem ich zog. Ruckweise ging es aufwärts, bald so schwer, daß ich glaubte, das Seil müsse reißen, dann wieder leichter; ich merkte, er half. Dabei stöhnte er, wie nur ein Mensch in der höchsten Noth stöhnen kann, und rief immerfort:

„Ziehen Sie mit aller Kraft, ziehen Sie, was Sie können!“

Ich zog; Zoll für Zoll wickelte sich das Seil mir um die Hände, bis sie mit einem unförmlichen Knäuel umsponnen waren. Dann rief ich: „Halt!“ schöpfte einen Augenblick Athem, wickelte ab und zog von Neuem.

So prompt ging es nicht immer. Wenn ich „Halt!“ rief, antwortete er mit erneuertem „Ziehen!“, und ich zog, bis ich an dem Schlaffwerden des Seils merkte, daß er für den Augenblick einen sichern Halt hatte.

Wie lange es so fort ging, kann ich nicht sagen. Immer wieder hing er zwischen Tod und Leben; sein Stöhnen klang lauter, seine Stimme vernehmlicher. Das Seil bestand eine gute Probe; es trug eine schwere Last, glitt über die rauhe Kante des Eises und brach nicht. Ich rührte mich nicht aus der Stelle. Die Möglichkeit, daß jeder Augenblick alle bisherigen Anstrengungen zu nichte machen könne, ließ mich jeden Gedanken an einen günstigen Erfolg von mir abwehren. Das Bewußtsein, zu thun, was ich vermochte, hielt meine Kraft aufrecht.

Jetzt tauchte eine braune Hand aus der Oeffnung empor, jetzt sein Hut und sein Gesicht, mit den Schultern steckte er im Schnee, ich zog – es ging nicht weiter.

„Ich kann nicht heraus,“ schrie er mit erstickter Stimme, „die Oeffnung ist zu enge!“

„Fassen Sie einen Augenblick festen Fuß, Andres, ich erweitere die Oeffnung.“

„Ziehen Sie, ziehen Sie – jetzt lassen Sie nach – helfen Sie mir nur die Hand herausbringen!“

Ich faßte seine rechte Hand, sie war neben der Schulter eingekeilt, und zog – vergeblich; er steckte fest, wie in einem Ringe von Eisen.

„Warten Sie einen Augenblick, ich mache Ihnen Luft.“

Er hatte sich festgestemmt, ich stieß neben der Schulter und der Hand den Schnee locker, der Arme kriegte ein kaltes Schneebad in den offenen Aermel und in den Nacken.

„So nicht,“ rief er, „fassen Sie das Seil und lassen nach!“

Ich stieß den Stock neben mich auf’s Gerathewohl in den Schnee – die Secunden waren zu kostbar – und ließ das Seil ein wenig nach. Er suchte und fand einen Stützpunkt und kauerte sich seitlich unter die Schneedecke. Wiederum faßte ich Stock und Strick zugleich und arbeitete, hier noch eine Schneekante wegzustoßen, und da noch eine. Dann noch ein letzter, langer Zug am Seil – und Anderl lag auf dem Schnee, er war gerettet. – Ich selbst lag auf dem Rücken. Ich streckte ihm die Hand entgegen, er faßte sie und war noch ein lebendiger Mensch. Er lachte und weinte zugleich, wir waren Beide mit unserer Kraft zu Ende.

So lagen wir eine Weile zusammen im Schnee; wir bedurften einer gewissen Zeit, um uns bewußt zu werden, daß die Gefahr nun wirklich überstanden sei, und hatten einander viel zu fragen und zu erzählen. Für’s Erste bemerkte ich, daß ihm der Alpstock fehlte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_063.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)