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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Der ist mir entglitten, als ich den Packen anband,“ sagte er.

„War die Spalte sehr tief?“

„Ich selbst war ungefähr fünfzehn Klaftern tief unten, doch von dem Orte, wo ich stand, ging sie noch sehr tief hinunter und bog dann seitwärts unter das Eis. Wer da hinunterfiel, der war unrettbar verloren.“

„Wie fanden Sie denn einen Halt?“

„Im Sturze sah ich eine vorspringende Schneekante und warf mich darauf, sie brach unter mir. Da warf ich mich auf eine andere, die hielt. So stand ich und stützte mich mit dem Stock an die gegenüberliegende Wand; die Kluft war an der Stelle über eine Klafter breit. Während Sie oben arbeiteten, stieß ich mir mit dem Messer Stufen in die Wand und kam so vorwärts, bis ich unter der neuen Oeffnung stand. Zur letzten Oeffnung ging es beschwerlicher, weil mir der Alpstock fehlte.“

„War es unten hell?“

„Es war weder hell noch dunkel, das Licht fiel durch die Oeffnung herein, unten war Alles blau, die Schneedecke selbst sah grau aus. Als Sie die beiden Oeffnungen machten, wurde es heller.“

„Wie machten Sie es denn, daß Sie beim Hinaufklimmen einen Halt fanden? Ich spürte es, indem ich zog. Hat Ihnen das Seil viel genützt?“

„Ohne das Seil wäre ich nie herausgekommen. Die Kluft war an der Stelle so schmal, daß ich den Rücken anstemmen konnte, und dann waren am Eise Kanten und Vorsprünge, wie sie das herabfließende Wasser leckt. Sie waren aber viel zu hoch übereinander, als daß ich von einem zum andern ohne den Zug des Seiles hätte gelangen können, und dabei so scharf wie Messer.“

Daß Dem so war, davon gaben seine Hände Zeugniß; auch sein linkes Ohr war blutig geschunden, und die Kopfhaut der linken Schläfe blutete an zwei Stellen, doch hatte er sich die letzteren Beschädigungen schon beim Falle zugezogen.

„Warum warteten Sie nicht ab, bis ich die Oeffnung fertig hatte? War es unten sehr kalt?“

„Von unten schien die Oeffnung weit genug zu sein für Drei. Von der Kälte habe ich nichts gefühlt, bis Sie mir den Schnee in den Aermel und in den Nacken schütteten, das war furchtbar kalt.“

Und während er noch sprach, fing er an, sich zu schütteln wie im Fieber, und sagte zähneklappernd: „Hu, wie entsetzlich kalt!“

Er sprang auf und trat hin und her, trank von dem Weine, aber bald sagte er: „Lassen Sie uns gehen, hier werde ich nicht wieder warm.“

„Ja, Andres, wir wollen umkehren.“

„Nein,“ sagte er sehr entschieden, „umkehren thu’ ich nicht. Wir haben ja den größten Theil des Gletschers hinter uns. – Aber Sie müssen mir schon Ihren Stock leihen, beim Vorangehen brauche ich ihn nöthiger.“

Ich gab ihm den Stock, er lud das Gepäck wieder auf und weiter ging es, über die verhängnißvolle Kluft hinweg. Ich habe keinen Blick in ihre Tiefe hinuntergeworfen, es war genug, der furchtbaren Gefahr entronnen zu sein. Noch waren wir in derselben Region, wo sie uns ereilt; und wer gab uns Gewißheit, daß nicht noch weiterhin das Verderben auf uns lauerte?!

Andres prüfte jeden Tritt, wir kamen langsam vorwärts. Für mich war das Gehen auf dem Schnee ohne Stock unangenehm genug, ich trat genau in seine Spuren. Einmal blieb er stehen und sagte: „Ich weiß gar nicht, wie mir ist, ich habe keinen sichern Tritt, in jedem Augenblick ist mir’s, als wiche der Boden unter mir und ich versänke.“

Noch über die letzte, die Bergkluft sprangen wir und hatten dann einen steilen Schneeabhang zu ersteigen, der recht glatt war. Andres mußte mir Stufen treten, so kamen wir glücklich hinan. Oben lag schon Steingerölle, wir erreichten den mit Trümmern bedeckten Felsenhang und waren nach zwanzig Minuten auf der Jochhöhe. Da stand das Bildstöckel, ein kleiner Holzpfeiler mit einem Crucifix. Es ist zum Gedächtniß eines Stubayers errichtet, den der Gletscher verschlungen hat. Andres zog den Hut und verrichtete ein stilles Gebet.

Vor uns lagen die Oetzthaler Alpen in wilder Pracht ausgebreitet, rückwärts schweifte der Blick über die Stubayer, Duxer und Zillerthaler Alpen bis zu den Bergen des Venediger und Glockner. Wir hielten uns indeß nicht lange bei ihrer Betrachtung auf, ein eisiger Wind trieb uns, weiter zu gehen. Vor uns lag noch ein Gletscher, der sich vom Joch gegen Südwesten senkt, kürzer, aber rauher als der eben überschrittene. Da wir schon genug auf Eis gegangen waren, so ließen wir ihn vorderhand links liegen und klommen in dem Felsgestein zu seiner Rechten gegen das Winacher Thal hin abwärts.

Der Weg war rauh und beschwerlich, und doch dünkte er uns leicht und sicher, angesichts der überstandenen Gefahr; der Schwindel blieb mir fern.

Von dem Gletscher, der tief unter uns, von zahllosen Spalten zerrissen, sich zu Thal senkte, erzählte mir Anderl, daß in ihm vor mehreren Jahren ein Geistlicher aus England den Tod gefunden hätte, indem er gegen den Rath des Führers über die trügerische Schneedecke die Abfahrt mit dem Alpstock versuchte. Er brach durch, fiel in eine Spalte und wurde als Leiche wieder herausgezogen.

Wir verließen unsern Felsstock – weiterhin ging er in so jähen Wänden zu Thal, daß ein Hinabklimmen an ihnen unmöglich oder doch äußerst gefährlich schien – und betraten wiederum auf eine kurze Strecke das Eis des Gletschers; nachdem wir dieses passirt, traten uns zwischen den Schollen des Gesteins wiederum die ersten Spuren der Vegetation entgegen, kleine purpurrothe Sternchen auf grauem Moose, die, trotzdem der Boden gefroren war, lustig blühten. Aus der Tiefe winkten uns schon die ersten Repräsentanten des Baumwuchses, verwetterte Lärchen und Arven.

Dann lagerten wir uns auf grüner Matte neben einem Bache und packten die Vorräthe aus. Zuerst kam eine ganze Menge Schnee aus dem Sack, dann die Flaschen – trotz des Sturzes hatte keine einen Sprung bekommen, nur die blaue Schneebrille war in seiner Hosentasche zerbrochen. Wir aßen und tranken angesichts der großartigsten Natur und der überstandenen Gefahr. Dann wurde die Pfeife in Brand gesetzt und im Sonnenschein ein halbes Stündchen geruht. Andres schlief sogar. Aber die Zeit verging und trieb uns zum Aufbruch. Unterhalb unserer Wiese fing ein betretener Steg an, der uns ohne Mühe hinab zu Menschen führte. An einer Stelle war er beengt durch einen alten Bergsturz; große Felsblöcke, wild übereinander geworfen, bildeten von der Höhe zum Thal ein Labyrinth von Höhlungen. Hier blieb Andres plötzlich stehen, als besänne er sich auf Etwas, dann kroch er zwischen die Felsen hinein. Kopfschüttelnd kam er wieder heraus.

„Hier war’s doch,“ sagte er, „hier habe ich vor einem Jahre einen Alpstock versteckt, und nun ist er fort, es muß ihn ein Anderer gefunden haben.“

Wir gingen weiter, aber noch waren es keine zwanzig Schritte, als er von Neuem in einer Höhlung verschwand, und im nächsten Augenblick erhob er ein Triumphgeschrei: „Hier ist er!“ und brachte den Zwillingsbruder des im Gletscher Verlorenen an’s Tageslicht. Eine Stunde später saßen wir im Wirthshause zu Sölden; in der Küche wurde für uns gebraten und gekocht, wir aber tranken für’s Erste einen Grog.

Ein Knecht des Hauses trat herein und begrüßte den Andres als Bekannten.

„Wo bist Du gewesen?“ fragte er ihn, „Du hast ja Blut am Kragen!“

„Ich habe Unglück gehabt, ich bin in den Ferner gefallen.“

„War es tief?“

„Ungefähr fünfzehn Klafter.“

Der Mann stand still und sah eine Weile starr vor sich auf den Boden.

„Der hat auch einmal drunten gelegen,“ sagte Andres.




Am 5. October saß ich in Venedig an der Riva dei Schiavoni, im Kreise liebenswürdiger Reisefreunde, und stärkte mich nach einem am Lido genommenen Seebade durch einen Caffe nero, als mir eine Wiener Zeitung in die Hände kam, in der ich las:

„(Ein Führer in Gefahr.) Wie bedenklich es ist, wenn Touristen Fernerwege, auf denen ein Einbrechen zu befürchten ist, mit nur einem Führer machen, zeigt ein Vorfall etc.“

Ich kannte den Vorfall, es war des Anderl und meine Geschichte.

„Sehen Sie, meine Herren, so kommt man in die Blätter.“

Sie fragten und ich erzählte; als Wahrzeichen dienten mir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_064.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)