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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Forst, vorläufig nur in der Absicht, am Rande desselben einige Blumen zu pflücken, aber dabei kam sie einen Schritt nach dem andern vorwärts, und gerieth endlich tief hinein.

Es liegt ein eigenthümlicher Zauber in der Waldeseinsamkeit, sie lockt und winkt unwiderstehlich, und wer sich ihr erst einmal hingegeben, den läßt sie sobald nicht wieder los. Auch Lucie unterlag diesem Zauber, sie liebte den Wald ja so leidenschaftlich, und heute rauschte er ihr so duftig kühl entgegen, es zog sie weiter und weiter, vorüber an stürzenden Bächen, an dunkeln Felswänden und dichtverschlungenem Gebüsch, immer weiter hinein in die grünen Tiefen, die sich endlos vor ihr aufthaten.

Länger als eine halbe Stunde war sie so vorwärts gelaufen, dem Fußpfade folgend, der sich vor ihr hinschlängelte, aber ohne im Ganzen viel auf Weg und Steg zu achten, da ward es auf einmal lichter um sie her, und aus den dichten Bäumen heraustretend, gewahrte sie eine jener stillen grünen Bergwiesen, wie sie der Wald oft in seinem tiefsten Schooße birgt. Die Felswand stieg hier plötzlich jäh und schroff empor und ragte weit hinaus über die Wipfel der Bäume, aber zu ihren Füßen schmiegte sich weicher grüner Rasenteppich, und über das dunkle Gestein rieselte es silberhell, ein Quellchen wand sich murmelnd und blinkend daraus hervor, und überall ringsum wehten und winkten die grünen Arme der Waldrebe, die in seltener Pracht und Fülle hier gedieh. Wie ein undurchdringliches Netz umflochten die dichten blätterreichen Ranken Bäume, Gesträuch und Felsgestein und erfüllten, mit Tausenden von weißen Blüten überdeckt, den ganzen Raum mit ihrem leise berauschenden Duft.

Es war ein lieblicher Ort zum Ausruhen, und Lucie beschloß, sofort davon Gebrauch zu machen, sie warf sich am Rande der Quelle nieder, lehnte den Kopf an die moosigen Steine, schloß die Augen, und fühlte mit kindischer Freude, wie die kühlen duftigen Ranken sich ihr auf die heiße Stirn und um die erhitzten Wangen legten.

Aber lange in dieser ruhig träumerischen Stellung auszuharren, lag nicht in dem Temperament des jungen Mädchens, schon nach wenigen Minuten richtete sie sich wieder empor, und da entdeckte sie denn etwas, was sich hier mitten im Walde allerdings seltsam genug ausnahm; nicht weit von ihr im Grase lag ein Buch, ein dicker, sehr verdächtig gelehrt aussehender Band, dessen Aeußeres hinreichend verrieth, daß er oft und viel benutzt wurde. Neugierig griff sie danach und schlug es auf, sie kannte zufällig den Titel, eben dies Buch war kürzlich Gegenstand eines heftigen Streites zwischen Fräulein Reich und ihrem Bruder gewesen, der es in seiner Bibliothek hatte. Franziska hatte die Lectüre eine „himmelschreiende“ genannt, Bernhard dagegen die Achseln gezuckt und ihr den Rath gegeben, das Werk doch einfach erst einmal zu lesen. Diese Zumuthung aber hatte das Fräulein mit vollster Entrüstung zurückgewiesen und ihn ersucht, sich doch gefälligst zu erinnern, daß sie eine christliche Pfarrerstochter und kein so ausgemachter Freigeist wie Herr Bernhard Günther auf Dobra sei. Lucie achtete sonst nicht viel auf dergleichen Gespräche, die sie nicht im mindesten interessirten; aber jetzt kam ihr doch eine dunkle Erinnerung daran und sie begann in dem Werke zu blättern, um womöglich das „Himmelschreiende“ herauszufinden, aber bald genug gab sie die Mühe auf. Weltgeist! Natur! Ursprung des Menschen! Gott, mit was für entsetzlichen Dingen füllten diese Männer nicht ihre Köpfe an! Fräulein Reich hatte ganz Recht, wenn sie eine solche Lectüre zurückwies, und ihr Zögling zerbrach sich nur den Kopf darüber, welcher ausgemachte Freigeist außer ihrem Bruder denn hier in der streng katholischen Umgegend lebe, der an solchen Studien Gefallen fand.

Sie hielt den Fund noch geöffnet in der Hand, als ein Schatten auf die hellen Blätter fiel, Lucie blickte auf und fuhr mit einem leisen Schrei des Entsetzens empor. Da stand er wieder vor ihr, der finstere Mönch, der unheimliche Pater Benedict, und sah sie mit seinen großen dunklen Augen an. Sie wich zurück, so weit als es die Felswand nur gestattete, die Linke griff wie Schutz suchend in die grünen Ranken, während sie mit der Rechten das Buch mechanisch an sich preßte. Sie wußte jetzt freilich, daß es nicht der Währwolf im Märchen war, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Geistlicher des Stiftes, aber das half alles nichts, es legte sich ihr genau so angstvoll und beklemmend auf’s Herz, wie das erste Mal. Hier war kein Entrinnen möglich, er stand ihr dicht gegenüber und jetzt öffnete er gar die Lippen zu einem Worte, jedenfalls so finster und feindselig, wie seine ganze Erscheinung war.

„Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie erschreckt habe, mein Fräulein! Ich kehrte um, etwas Vergessenes zu holen, Sie sahen mich nicht, als ich über die Wiese schritt.“

Es war das erste Mal, daß Lucie seine Stimme vernahm, sie athmete tief auf und ließ die Hände sinken. Die Stimme klang ganz anders, als sie geglaubt, es war ein weicher voller Klang, der sympathisch ihr Ohr berührte, und als sie etwas ermuthigt dadurch einen Blick in sein Gesicht wagte, da erschienen ihr auch die Augen ganz anders, als sonst. Sie blickten wohl noch ernst und düster auf sie hin, aber die unheimliche Gluth darin war gemildert, war tief zurückgedrängt. Luciens Angst begann zu weichen, sie machte allmählich der entgegengesetzten Empfindung Platz. Nichts lag dem Charakter des jungen Mädchens ferner, als eigentliche Furchtsamkeit; im Gegentheil, sie war meist nur allzu keck und übermüthig. Wie oft war sie lachend und spottend Dem entgegengetreten, was Anderen als eine Gefahr erschien; wie oft hatte sie dem drohenden Stirnrunzeln von Madame Schwarz und den Strafpredigten von Fräulein Reich die Stirn geboten, wie oft sogar dem Zorn des Bruders getrotzt, den doch ganz Dobra fürchtete; warum hatte denn nur dieser Mann allein auf der ganzen Welt die Macht, sie durch seinen bloßen Anblick schon zu schrecken und zu ängstigen? Der Zorn darüber wallte heiß in ihr empor, sie wollte sich nicht mehr schrecken lassen, sie wollte der lächerlichen Furcht Herr werden, um jeden Preis! Entschlossen gab sie ihre Vertheidigungsstellung auf, warf die Locken zurück und trat einen Schritt vorwärts.

Jetzt erst bemerkte Benedict das Buch, das sie noch immer festhielt, und etwas, das beinahe einem Lächeln glich, flog über seine Züge.

„Was soll denn Spinoza in Ihren Händen?“ fragte er halb mitleidig, halb vorwurfsvoll, „für Sie passen doch solche Schriften sicher nicht!“

Er hätte Luciens heroischen Entschluß nicht wirksamer unterstützen können, als durch diese Bemerkung; wo ihr kindisches Selbstgefühl verletzt ward, trat für sie alles Andere in den Hintergrund. Sie fand sich tief gekränkt durch diese Worte, sie klangen aber auch gar zu mitleidig herablassend, ihr Zorn schlug in hellen Flammen auf, und ihm den Vorwurf sofort zurückgebend, entgegnete sie sehr entschieden:

„Nun, für Sie paßt das Buch doch wohl noch viel weniger!“

Benedict wich einen Schritt zurück bei diesem ganz unerwarteten Ausfall und sah sie halb erstaunt an. „Weshalb?“ fragte er endlich.

„Weil Sie ein Mönch sind!“ erklärte Lucie, genau den verächtlichen Nachdruck auf das Wort legend, mit dem ihr Bruder es auszusprechen pflegte.

Benedict zuckte leise zusammen. Fort war auf einmal der mildere Ausdruck der Züge, der alte Schatten und die alte Feindseligkeit standen wieder drohend dort und auch die Stimme hatte den weichen sympathischen Klang verloren, als er finster fragte:

„Sie verachten wohl die Mönche recht sehr?“

Lucie fühlte unklar, daß sie mit ihrem Worte irgend eine dunkle Tiefe aufgerissen, die besser verschlossen geblieben wäre, aber sie kämpfte schon wieder gegen die alte Angst an, die sich auf’s Neue zu regen begann, und in ihrem Widerstande dagegen ging sie schleunigst in’s Extrem über, und reizte nun selbst den Gefürchteten nach Kräften.

„Ich mag sie auch nicht!“ erklärte sie mit der ganzen Freiheit und der ganzen Unart eines Kindes, „und ich kann überhaupt nicht begreifen, wie ein Mensch es vermag, sich sein Leben lang im Kloster einzusperren und seine Zeit immer nur mit Beten und Büßen hinzubringen, während draußen die Welt so schön ist!“

Benedict lächelte wieder, diesmal aber lag eine unendliche Bitterkeit in seinem Lächeln.

„Sie können es auch nicht begreifen, weil Sie in Freiheit erzogen und aufgewachsen sind. Hätte man Sie schon als Kind mit Leib und Seele in die Gewalt der Priester gegeben, so wären Sie auch in’s Kloster gegangen. Ich sage Ihnen, Sie hätten es gethan!“ wiederholte er nachdrücklicher, als sie eine heftige Bewegung machte, „unter der eisernen Zuchtruthe bricht jeder Trotz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_071.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)