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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Sonderbar! Derselbe junge Mann, der sich zehn Mal bedenkt, bevor er einem Hülfsbedürftigen eine Gabe verabreicht, oder ihn, ohne sich auch nur einen Augenblick zu bedenken, rauh abweist, derselbe junge Mann setzt hier Tausende auf’s Spiel, und er, der es gar nicht unter seiner Würde hält, einen Schneider, Schuster oder sonstigen Handwerker unzählige Male mit der nämlichen unquittirten Rechnung zu entlassen, ist in Verzweiflung, bis er das Geld zur Berichtigung der Spielschuld aufgetrieben, und jagt sich wohl eine Kugel durch den Kopf, wenn ihm dies nicht gelingt.

Steigen wir eine Stufe niedriger und sprechen wir von den Salons, wo die Dame vom Hause eine große Gesellschaft empfängt. Diese Dame hat eine sehr bewegte Vergangenheit. Nachdem sie ein Vierteljahrhundert hindurch ihr Herz den Meistbietenden vermiethet und den Bewohnern desselben, wenn sie den hohen Miethzins nicht mehr erschwingen konnten, ohne Weiteres die Wohnung gekündigt, hat sie sich einige Jahre nach zurückgelegtem Schwabenalter, da sich kein Miethsmann mehr einstellte, in ein vornehmes Stadtviertel zurückgezogen. Hier ist sie auf’s Prachtvollste eingerichtet und empfängt Abends zahlreiche Gäste. Unter denselben befinden sich Gräuköpfe, die der Sünde nachlaufen, Jünglinge, denen die Sünde nachläuft, und Damen, die zum Theil mit der Tugend sich längst überworfen, zum Theil mit ihr auf sehr gespanntem Fuße leben, und vorläufig nicht im Allerentferntesten daran denken, sich mit ihr zu versöhnen.

Nachdem diese gemischte Gesellschaft vollzählig, begiebt man sich an die Spieltische. „Bacarat“ und „Landsknecht“ sind die beliebtesten Spiele. Die Goldstücke rollen nach allen Richtungen; die Bankbillete werden von den krampfhaft bewegten Fingern zerknittert und die unerfahrene Jugend, die es hier mit dem erfahrensten reifern Alter zu thun hat, verläßt gewöhnlich die Gesellschaft in stark gerupftem Zustand.

In diesen Salons geht’s nicht immer ehrlich zu. Das Glück oder Unglück des Spielers wird hier nicht ausschließlich von den Launen der blinden Fortuna bestimmt. Die erfahrenen Leute mißtrauen der Blindheit der albernen Göttin und wissen die Karten so zu zeichnen und zu mischen, daß Jeder, der nicht in das Geheimniß eingeweiht ist, nothwendig verlieren muß. Ein solch falscher Spieler wird „Grec“ (Grieche) genannt, und in den eben geschilderten Salons ist das Griechenthum häufiger, als man glaubt. Wer erinnert sich nicht noch des garstigen Processes, aus welchem sich der damalige Director der italienischen Oper mit so wenig Glimpf zu ziehen wußte? Man hatte sich in den Salons der Madame B–i, einer schon überreifen Laïs in den Elyseischen Feldern, um den Spieltisch versammelt, und besagter Director, der in der neuen Welt sich ein sehr bedeutendes Vermögen erspielt hatte, war in diesen Salons ein Stammgast. Er gewann immer. Eines Abends ergab es sich aber, daß er zu jenen entschiedenen Griechen gehörte, die jedoch nicht in directer Linie von Aristides oder Epaminondas abstammen. Die beleidigte Justiz verurtheilte ihn, zwei Jahre zwischen vier dicken und engen Mauern über das Resultat seiner griechischen Studien nachzudenken. Man behauptete damals in Paris allgemein, daß er die Direction der italienischen Oper nur übernommen, um in dieser Stellung seinem Hellenismus mit größerem Erfolge obzuliegen und selbst der unter seiner Leitung stehenden Künstlerschaar die Gage wieder aus der Tasche zu locken.

In der eben genannten Soirée befand sich unter Anderen auch ein Landsmann des Directors, ein junger Mann, der an jenem Abende achtzigtausend Franken verspielte. Derselbe war lange Zeit vom Glück verhätschelt worden. Er hatte sein väterliches Erbe von zweihunderttausend Franken binnen kurzer Zeit in verschiedenen deutschen öffentlichen Spielsälen um das Sechsfache vermehrt und glaubte sich unbesieglich. Bald aber zerrann, was er gewonnen und was er geerbt, und er sah sich endlich genöthigt, die Journalistenfeder zu ergreifen, die ihm noch jetzt das tägliche Brod erwirbt.

Sprechen wir nun von den Tripots, von den eigentlichen Spielhöllen.

Es giebt deren in Paris unzählige; aber wenn in denselben ohne Ausnahme Betrug und Gaunerei vorherrschen und wenn sie sämmtlich vor der Polizei sich ebenso schlau zu verbergen suchen, wie sie von dieser ausgespäht werden, so unterscheiden sie sich doch voneinander durch die Classe ihrer Besucher, durch die Summe des Einsatzes und durch die innere Ausstattung. Es giebt Tripots, in denen an einem Abend hunderttausend Franken auf den Tischen aufgehäuft sind. Sie befinden sich gewöhnlich in schlechtbeleuchteten Straßen abgelegener Stadttheile und in alten einzelnstehenden Häusern, zu denen der Zugang auf alle mögliche Weise erschwert worden. Auch sind Abends die Fensterladen hermetisch verschlossen, damit kein Lichtstrahl die Anwesenheit eines Sterblichen verrathe. Außerdem sind sie noch häufig mit Drehbrücken versehen, die jedem Unberechtigten den Eingang unmöglich machen. Damit endet aber die Vorsicht nicht, welche die Furcht vor der Polizei gebietet. Niemandem wird Zutritt gestattet, der nicht das Losungswort kennt. Der Cerberus, von dem eine solche Hölle bewacht wird, hat fortwährend Augen und Ohren nach allen Seiten gerichtet und warnt die Gesellschaft, so oft er die geringste Gefahr merkt. Ob diese unausgesetzte Wachsamkeit das saubere Etablissement vor Verderben sichert, werden wir bald sehen.

So verlassen und verfallen das Aeußere des Hauses scheint, das Innere desselben ist doch mit keinem geringen Aufwand eingerichtet. Die Zimmer sind auf’s Glänzendste beleuchtet und vortrefflich möblirt; sie sind besonders mit weich gepolsterten Divans und Lehnsesseln reichlich versehen, und es fehlt auch nicht an den mannigfaltigsten Erfrischungen. Der Herr des Hauses, der, wenn er bis jetzt noch niemals auf den Galeeren gewesen, es nicht seiner Jugend zuzuschreiben hat, sondern der Schlauheit, mit der er den Händen der Themis zu entwischen gewußt – der Herr des Hauses hat ein besonderes Augenmerk auf den jüngern Theil seiner Besucher. Diesen strebt er auf alle nur erdenkliche Weise anzuködern und deren Einbildungskraft so sehr wie möglich aufzuregen. Wenn sie sich etwas zu kühl zeigen, versieht er sie mit illustrirten Spielkarten, solchen Karten nämlich, die, gegen das Licht gehalten, allerlei obscöne, wollüstige Figuren und Gruppen zeigen. Ist das Blut in Wallung gerathen, so führt man sie in den prachtvoll erleuchteten sogenannten „Salon des distractions“, was wir ebenso euphemisch mit „Zerstreuungssaal“ übersetzen wollen. Daselbst werden sie Verlockungen anderer Art ausgesetzt, denen keiner von ihnen widersteht. Hier befinden sich nämlich abgefeimte Phrynen, die von dem Wirthe angewiesen sind, die jungen Opfer zu betäuben und zur Fortsetzung des Spiels aufzumuntern. Hat nun ein junger Mann die mitgebrachte Baarschaft verloren, so nähert sich ihm der Spielhöllenwirth mit süßem Lächeln, sucht den Unglücklichen zu trösten und bietet ihm – wie er versichert, aus purer Menschenfreundlichkeit – eine Summe zur Fortsetzung des Spieles dar, versteht sich unter gewissen menschenfreundlichen Bedingungen. Der Wirth läßt nämlich den Jüngling einen Wechsel unterschreiben, und die Unterschrift verpflichtet den Leichtsinnigen zu den wucherischesten Zinsen. Wie man leicht begreifen kann, ist der infame Wirth nur dann mit dem Darlehn zur Hand, wenn er weiß, daß der junge Mann einer reichen angesehenen Familie angehört, die, um die Ehre des Sohnes zu retten und Scandal zu vermeiden, die Unterschrift respectiren wird. Es versteht sich auch von selbst, daß ein junger Mann, der ein solches Tripot besucht, fast immer unrettbar verloren ist. Wer in die wildbewegten Meereswogen stürzt, kann sich doch vielleicht durch Schwimmen retten; wer aber in einen tiefen Morast sinkt, kann nur durch ein Wunder gerettet werden.

Indessen besteht die Kundschaft der eben geschilderten Spielhöllen nicht blos aus jungen Leuten, denen erst der Flaum am Kinn sproßt. Man findet dort auch reife und überreife Männer mit ergrauten und kahlen Scheiteln, und unter ihnen nicht selten Künstler, Aerzte, Juristen und Beamte, deren Frauen und Kinder zu Hause darben.

Steigen wir nun noch einige Stufen niedriger und sprechen wir von den Tripots, wo jede äußere Eleganz fehlt und die Gaunerei unter allen Formen ihre Opfer hinwürgt. In diesen Spielhöllen wird Tag und Nacht gearbeitet, und damit der Spieler keine Veranlassung habe, sich zu entfernen, sind dort in einer besonderen Vorrathskammer allerlei Lebensmittel aufgehäuft, die dem Hungrigen und Durstigen verabreicht werden. Es giebt in diesen Spelunken zweierlei Art Spieler, von denen die Einen immer gewinnen und die Anderen immer verlieren. Erstere arbeiten mit dem Wirth im Einverständniß und sind gewöhnlich Taschenspieler von Profession, welche die Volte vortrefflich zu schlagen wissen und jede Karte des Partners genau kennen; Letztere bestehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_110.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)