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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wogen in den Thälern auf und nieder oder jagen sturmgepeitscht um die höchsten Gipfel, und von den Regengüssen geschwellt toben die Bergwasser in ungezügelter Wildheit dahin. Auch hier hängen die Nebelschleier feucht und dicht an Wald und Fels, aber aus ihnen hervor heben die dunkeln Tannen nur trotziger ihre starren Häupter, denen all’ das eisige Wehen den grünen Schmuck nicht zu rauben vermag, und aus dem Wolkengewande ragen die schroffen Zacken und Klippen nur mächtiger empor. Der Herbst hat dem Gebirge den Blumenkranz vom Haupte gerissen, aber damit endet auch seine Macht, die sich ohnmächtig an diesen Wäldern und Felsen bricht, die nicht zu entblättern und nicht zu erschüttern sind. Wird doch selbst der Winter nie ganz Meister dieser starren Natur, und wenn er mit seinen Schneelasten auch Alles begräbt und niederzwingt, die lebendige, ewig klopfende Ader des Gebirges vermag er nicht zu schließen; den Bergstrom legt er doch nie in seine Eisfesseln, und wenn alles Andere ringsum in Schnee und Eis erstarrt, rettet sich dies Leben, das ewig neu und ewig bewegt aus dem tiefsten Grunde des Gebirges hervorquillt, allein unbezwungen hinüber in’s neue Frühlingsgrün.

Das Dorf N., der Bezirk des Pfarrers Clemens, war einer jener einsamen hochgelegenen Bergorte, die nur während der einen Hälfte des Jahres im Verkehr mit der Ebene drunten stehen, während der anderen aber durch Herbststürme, Winterschnee und Frühjahrswasser fast gänzlich davon abgeschnitten, ja zeitweise gar nicht zu erreichen sind. Eng zusammengedrängt lag das Dörfchen auf seinem Hochplateau da, dicht um die in der Mitte befindliche Kirche geschaart, als sei es des Schutzes derselben bedürftig, und in der That klein und schutzlos genug sah es aus, inmitten der hohen Schneegebirge, die es rings umlagerten und so riesengroß auf die winzigen Menschenwohnungen herabblickten, die ein einziger ihrer Stürme vernichten konnte. Spärliches, verkrüppeltes Tannengehölz säumte den Rand des Plateaus, die Wälder begannen erst weiter unten, wo der Weg sich in’s Stromthal hinabneigte, es war freilich keine Poststraße, und es hatte selbst in der guten Jahreszeit seine Schwierigkeit, N. anders als zu Fuße zu erreichen.

Aus der Thür des Pfarrhauses, dessen Aeußeres hinreichend verrieth, daß es nur eine sehr arme Gemeinde war, die man dem Pfarrer Clemens zugewiesen, traten zwei Geistliche und schritten langsam durch’s Dorf, hin und wieder einen ehrfurchtsvoll gespendeten Gruß erwidernd, oder ein Kind segnend, das herbeigelaufen kam, den hochwürdigen Herren die Hand zu küssen; als sie die Häuser hinter sich hatten und in’s Freie traten, überfiel sie der kalte Bergwind mit doppelter Gewalt.

„Sie sollten umkehren, Hochwürden!“ sagte der Jüngere, seinen Mantel fester um die Schultern ziehend. „Die Luft ist allzu rauh; es sieht aus, als sollten wir wieder Sturm bekommen.“

Der Aeltere schüttelte das Haupt. „Bis zum Crucifix begleite ich Sie jedenfalls, lieber Benedict. Ich schone mich schon über die Gebühr, seit Sie hier sind. Der kurze Gang wird mir wohlthun.“

Benedict erhob keinen Einwand weiter und sie schritten einige Minuten lang schweigend vorwärts, dann begann der Pfarrer von Neuem das Gespräch.

„Wenn nur dieser tägliche Gang nach der Wallfahrtscapelle nicht wäre! Ich kann mich dabei nie einer gewissen Sorge um Sie erwehren.“

„Weshalb? fragte Benedict gelassen. „Der Weg ist nicht allzu weit.“

„Aber gefährlich! Sie müssen dabei stets die ‚wilde Klamm‘ passiren, einen der schlimmsten Punkte des ganzen Gebirges. Im Sommer mochte das noch hingehen, aber jetzt, wo die fortwährenden Regengüsse den Felsboden glatt und schlüpfrig machen, wo man nie wissen kann, ob die Brücke auch wirklich den letzten Stürmen Widerstand geleistet hat –“

„Die Bauern wählen ja stets diesen Pfad, um den Weg in’s Thal abzukürzen!“ unterbrach ihn der junge Priester gleichgültig.

„Ja, unsere Bauern! Die sind im Gebirge geboren und aufgewachsen. Solch ein Fuß gleitet nicht so leicht und weiß sich selbst im Sturze noch zu halten und anzuklammern; der Ihrige dagegen – ich kann mir nicht helfen, ich sehe Sie jedesmal mit Sorge gehen und bin erst ruhig, wenn ich Sie sicher wieder im Pfarrhause weiß.“

„Ich bin schwindelfrei,“ sagte Benedict ruhig, „und überdies kann ich den Leuten deswegen nicht eine Gewohnheit nehmen, die ihnen seit Monaten ein Bedürfniß geworden ist, wie diese tägliche Messe in der Wallfahrtskirche.“

„Vorgeschrieben ist sie aber keineswegs!“ wandte der alte Pfarrer schüchtern ein. Ich selbst – nun freilich, meine Kräfte hätten schon längst nicht mehr ausgereicht zu solchen täglichen Strapazen, ich mußte sie für die nothwendigen Gänge zu Kranken und Sterbenden schonen – ich selbst habe nur an Wallfahrtstagen dort Gottesdienst gehalten.“

Es ist aber eine unendliche Erleichterung für die Bewohner all der einzelnen und zerstreuten Gehöfte, wenn sie nicht jedesmal den beschwerlichen Weg bis N. zu machen brauchen. Sie sparen Zeit und Kräfte, die ihnen beide für die Arbeit so nothwendig sind, und ich habe Muße genug, zumal jetzt, wo“ – hier zuckte ein bitterer Ausdruck um seine Lippen – „wo mir das Predigen untersagt ist und ich höchstens noch die Ceremonien ausüben darf. Ueberdies gehe ich ja morgen den Gang zum letzten Male.“

Der Pfarrer blickte wie erschreckt auf. „Zum letzten Male?“

„Nun, Sie wissen doch, daß ich nach dem Stifte zurückberufen bin?“

„Aber hoffentlich nur auf einige Tage.“

Benedict schüttelte finster das Haupt. „Man wird mich schwerlich zurückkehren lassen, ich kenne den Prälaten! Das geringe Maß von Freiheit, welches dies Amt mir ließ, hat sich doch noch als zu groß erwiesen; er wird nicht säumen, es mir zu entziehen.“

„Sie meinen Ihre Predigt am letzten Kirchentage? Herr Bruder, Herr Bruder!“ Die Stimme des Greises zitterte, aber er brach ab, als er das Stirnrunzeln des jungen Priesters gewahrte. „Nun, ich mag Sie nicht auch noch damit quälen; aber ich kann mich im tiefsten Innern der Angst nicht erwehren. Bleiben Sie hier, Benedict! Schützen Sie Krankheit vor, oder suchen Sie die Rückkehr unter irgend einem andern Vorwande hinauszuschieben; es ist nichts Gutes, was man im Stifte gegen Sie braut! Hier sind sie sicher, die Gemeinde hängt mit Begeisterung an Ihnen und würde Sie nöthigenfalls vertheidigen; in unserer Mitte wird man es nicht wagen, Sie anzugreifen.“

„Ich gehe!“ erklärte Benedict entschieden.

„Aber man hegte schon längst Mißtrauen gegen Sie,“ fuhr Jener dringender fort. „Unser Schullehrer – ich mag dem Manne nichts Uebles nachreden, da ich keine Beweise habe; aber es hat mir nie gefallen, daß er sich gleich vom ersten Tage an mit so auffallender Dienstbeflissenheit an Sie drängte. Sie waren nie vorsichtig genug mit Ihren Büchern, Ihren Schreibereien; ich fürchte, sie sind mehr als einmal untersucht worden. War doch auch mir befohlen –“ er stockte und sah verlegen zu Boden.

„Hat man auch Sie zum Spion erniedrigen wollen?“ fragte der junge Priester bitter. „Ein trauriges Amt, zumal wenn es gegen den Gast geübt wird, der seit Monaten unter dem Dache des Hauses schläft!“

„Was ich berichte, schadet Ihnen nichts, Herr Bruder,“ entgegnete der Greis sanft. „Mögen sie mich immerhin im Stifte einen alten Schwachkopf nennen, der nicht sieht und hört, was um ihn her vorgeht, ich will das lieber ertragen, als Sie mit einem unvorsichtigen Worte in Gefahr stürzen.“

Benedict antwortete nicht, er streckte ihm nur stumm die Hand entgegen.

„Nicht wahr, Sie bleiben?“ hob der Pfarrer nach einer kurzen Pause wieder bittend an.

„Ich kann nicht! Glauben Sie nicht, daß ich der Milde des Prälaten allzusehr vertraue. Ich weiß, was mich erwartet, oder ahne es wenigstens, aber um Ihren Rath zu befolgen, müßte mir mehr am Leben liegen. Ich versichere Ihnen, es ist mir sehr, sehr gleichgültig, ich mag auch nicht einmal die Hand rühren, um es zu retten!“

Sie hatten inzwischen das Crucifix erreicht, das am Rande des Plateaus stand, gerade dort, wo der Weg nach der Wallfahrtskirche sich abneigte, die beiden Geistlichen blieben stehen.

„So sollten Sie nicht sprechen, Herr Bruder,“ sagte der Pfarrer mit sanftem Vorwurf, „Sie sind noch so jung!“

„Und Sie sind schon so alt, Hochwürden!“ in Benedict’s Stimme klang ein leiser Hohn, „und hängen immer noch an diesem Dasein, das für Sie doch wahrlich entsagungsvoll genug gewesen ist? Was haben Sie denn erreicht mit dieser elenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_135.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)