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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

erst jetzt durch ihre besondere Niederlage recht vor Augen getreten. Seit mehr denn zwanzig Jahren hockt diese Fraction, welche die Politik nach den Interessen ihrer römisch-katholischen Kirche betreibt, im Centrum des Abgeordnetenhauses, zwanzig, dreißig Mann stark, auch eine Zeit lang schwächer; jetzt aber, Dank der von Rom aus neu angefeuerten ultramontanen Wühlerei in Deutschland, und in Preußen noch besonders, bis auf ein halb Hundert Köpfe angewachsen.

Dicht zusammen auf den kleinen halbrunden Bänken, welche sich in der Mitte des Saales vor der Rednertribüne und dicht unter der Ministerestrade befinden, sitzen die vier Männer, welche die Seele dieser Fraction bilden. Vornan, auf einem besondern Stuhl, Windthorst; hinter ihm die Brüder Reichensperger, in dritter Reihe Herr v. Mallinckrodt. Sie sind der hohe Generalstab, die Führer und Redner der von ihnen wohldisciplinirten Partei; wenn andere Mitglieder, wie Herr v. Savigny, nicht minder bedeutenden Einfluß auf die Haltung des kleinen Kreises nehmen, so bleiben sie bei den Debatten doch gewöhnlich Alle im Hintergrunde.

Dr. Falk, der neue Cultusminister von Preußen.

Herr Windthorst ist ein ganz neues Mitglied dieser Fraction und sogleich ihr Hauptgeneral, ihr „geschäftsführender“ Vorstand, geworden, was dem Fürsten Bismarck am allermeisten wohl die Augen über die schleichende Gefährlichkeit derselben geöffnet und ihn gegen sie so heftig erbittert haben mag. Der Grund davon ist naheliegend. Windthorst, als früherer Minister des Königs von Hannover und ausgesprochener Welf, vertrat bis dahin nur die Partei der unzufriedenen Annectirten, und die war schon vor 1870 im preußischen Abgeordnetenhause nicht gefährlich. Als beeinflussender Führer einer so starken Mittelpartei, wie die katholische immerhin ist, erhielt Windthorst natürlich eine ganz andere parlamentarische Bedeutung. Nicht nur, daß er sein Welfenthum in lebendiges Bündniß mit dem hier arbeitenden Ultramontanismus setzte; sondern als ein geschickter und verschlagener Politiker, der bei den preußischen Conservativen sich einiges Ansehen verschafft hatte, war ihm wohl zuzutrauen, daß er in entscheidenden Augenblicken alle diese Elemente, auch die Polen dazu, vereinigen konnte, um der Politik Bismarck’s ein Bein zu stellen. Die Politik Bismarck’s war ja nicht blos ihm, dem treuen Welfen, sondern auch den Ultramontanen, Conservativen und Polen ein Dorn im Auge, um so mehr, je weniger sie den „Racker von Staat“ und die Befestigung der Regierungsautorität nach den Interessen dieser Geister zuzustutzen liebte. Deswegen hatte sich Fürst Bismarck auch vor Allen Herrn Windthorst als Opfer seiner Beredsamkeit erkoren, und der alte Herr nahm diesen bittern Erguß mit verstellter Demuth hin, wie eine Prüfung durch den Himmel.

Dem äußern Eindruck nach erscheint er keineswegs als ein so feiner und gefährlicher Politiker, wie ihn Fürst Bismarck offen hinstellte und als welcher er sich durch seine bisherige Wirksamkeit in der That auch charakterisirte. Windthorst, der jetzt sechszig Jahre zählt, gleicht in seinem äußern Habitus eher einem spießbürgerlichen Rentier, denn einem auf dem glatten Parket des Hofes erfahrenen Staatsmann. Er ist von mittlerer Größe und etwas behäbig untersetzter Figur, einfach und fast altväterisch in seiner Kleidung, doch nichts ohne Leichtigkeit in seinen Bewegungen. Sein starker Kopf ist kahl bis zum Wirbel hinauf, noch mit einem dünnen Kranz flachsgrauer Haare auf der breiten Stirn. Gern folgt er der Gewohnheit aller Glatzköpfe, den Schädel mit der Hand zu streichen. Ein spärlich gediehener, grauer Backenbart faßt sein fleischiges, wie von zartem Rosa angehauchtes Antlitz ein. Die Formen desselben sind etwas gedrückt und verschwommen, die Nase rund und klein, die Lippen sinnlich weich, die Augen in faltigen Polstern lugen zuweilen verschmitzt oder verschämt über das Brillengestell hinweg. Im Kreuzgang eines Klosters und in der Kutte hielte man diese Physiognomie für die eines gutgenährten Paters, der dem lieben Gott ohne Beschwerden sein Leben gewidmet hat. Es liegt nichts Besonderes darin, als eine gewisse schalkhaft versetzte Intelligenz; gar, wenn Windthorst, was oft geschieht, den Kopf gesenkt, vor sich hinzubrüten scheint, illustrirt er wohl das pikante Wort des Grafen Renard, daß er ein welfischer Schalk unter der Kutte sei.

Dicht an der Rednerbühne, ist er leicht versucht, sie zu besteigen. Er spricht nicht imponirend, aber sichtlich gern, mit dem Ehrgeiz, seinen staatsmännischen Werth geltend zu machen. Kein Freund Preußens von jeher und am allerwenigsten einer der Bismarck’schen Regierung, verschleiert er diese Gesinnung mit seiner Opposition gegen die Sache, was nicht verhindert, daß er häufig in allgemeine Angriffe übergeht, welche der Präsident gewöhnlich unterbrechen zu müssen glaubt. Aber in diesen Zweideutigkeiten und Ausfällen liegt eine gewisse Bosheit, die aufreizt. Wie wußte er in der großen Debatte über das Schulaufsichtsgesetz von seinen schmunzelnden Lippen das ärgernde Wort abzuschnellen, daß Preußen drauf und dran sei, ein heidnischer Staat ohne Gott zu werden oder der sich Gott selber construire; wie reizte er Fürst Bismarck, indem er ihn den geschäftsführenden Minister der Majorität des Abgeordnetenhauses nannte und den Biß dann noch vergiftete, indem er von einem Abfall vom Royalismus zum Parlamentarismus sprach! Wie nergelte er den thronenden Forckenbeck auf dem Präsidentenstuhl unvermuthet empor, indem er nach der großen Rede Bismarck’s gegen seine welfische Jesuitenpolitik gottergeben bemerkte, daß ihm der Herr Präsident wohl nicht gestatten würde, sich in derselben Tonart zu vertheidigen, wie sie ein Minister ungestört anschlagen dürfe! Und dann hing er den Kopf zur Erde und nahm die neuen Sturzbäder hin.

Die Rolle, welche jetzt Windthorst als anerkannter Führer der katholischen Fraction auf dem großen Theater des preußischen und reichsdeutschen Parlamentarismus spielt, schmeichelt seinem geheimen Ehrgeiz natürlich nicht wenig. Sie ist viel bedeutender als diejenige, welche er fast zwanzig Jahre lang im Königreiche Hannover gespielt hat, und zwar, was heute erst bemerkenswerther geworden ist, vor Allem mit Hülfe des intriguirenden römischen Jesuitenthums. Windthorst, welcher in den vierziger Jahren Advocat in Osnabrück war, wurde durch ultramontane und damit verbündete protestantisch-pietistische Einflüsse zu der Höhe seiner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_141.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)