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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 11.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.
Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.
(Fortsetzung.)


Erst am Ausgange des Dorfes hielt Lucie in der halb unwillkürlichen Flucht inne, wußte sie doch selbst kaum, wovor sie eigentlich floh, oder wollte es sich vielmehr nicht eingestehen; aber die bloße Vorstellung schon, daß die scharfen Augen Franziska’s und die des Pfarrers auf ihr ruhen würden, wenn die Thür sich öffnete und jene hohe finstere Gestalt eintrat, drohte sie um alle Fassung zu bringen. Der bloße Gedanke an die Nähe dieses Mannes weckte Alles wieder auf, was im Laufe der letzten Monate eingeschlummert war, so daß sie nur noch bisweilen, wie an einen schweren, ängstlichen Traum daran zurückdachte, die räthselhafte Angst, das quälende Weh, den ganzen finsteren Bann, der sie bereits wieder magnetisch umfing. Sie wollte diesem Banne entfliehen und ahnte nicht, daß sie eben dadurch erst in den gefürchteten Zauberkreis eintrat, daß die Gefahr, die sie hinter sich wähnte, vor ihr lag.

Am Fahrwege angelangt überblickte Lucie vergeblich die ihr sichtbaren Windungen desselben, weder Bernhard, noch der Kutscher mit den Pferden war zu entdecken. Sie beschloß, dem Bruder ein Stück entgegenzugehen, verfehlen konnte sie ihn ja hier nicht und es lag ihr vor allen Dingen daran, dem Pfarrhause so lange als möglich fern zu bleiben.

Das junge Mädchen war schon einige Minuten lang bergabwärts gestiegen; der Weg, der Fräulein Reich so viele Mühe gekostet, machte ihren leichten Füßen nicht die geringste Beschwerde, als sie auf einmal Schritte hinter sich vernahm. Sie wandte sich um und blieb einen Moment lang in zitterndem Schreck stehen, aber auch nur einen Moment, da entdeckte sie bereits, daß es blonde Haare seien, die auf den dunklen Mantelkragen des Fremden herabfielen, der in diesem Augenblick, schon aus der Ferne grüßend, den Hut zog. Lucie athmete tief auf. Graf Rhaneck! Sie hatte ihn, durch Gang und Haltung getäuscht, für einen – Anderen gehalten, es war seltsam, wie er in Beidem diesem Anderen glich.

Mit wenigen raschen Schritten war Ottfried an ihrer Seite. „Das sind in der That halsbrechende Bergpartien hier oben! Wer doch auch Ihren Elfenfuß hätte, mein Fräulein, der so leicht über diese Steine hinweggleitet, wie über eine bethaute Wiese. Wir armen Sterblichen haben es nicht so gut wie die Elfen, uns hält die nasse Erde unerbittlich fest, und wahrlich, nur die Hoffnung, ein solches Feenkind zu erreichen, konnte mich veranlassen, Ihnen auf diesem entsetzlichen Wege zu folgen.“

Mit dieser kecken Galanterie schloß er sich ihr ohne Weiteres an und blieb, als habe er ein Recht dazu, dicht neben ihr. Lucie wich unwillkürlich etwas seitwärts, so daß der Raum zwischen ihnen weiter ward.

„Mich erreichen?“ fragte sie ziemlich kühl. „Wußten Sie denn überhaupt, daß ich hier sei?“

Der Graf lächelte. „Ich sah Sie bereits vor einer halben Stunde, Sie traten soeben mit ihrer Begleiterin in’s Pfarrhaus, als wir nach dem Dorfe zurückkehrten. Schon hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, Sie zu sprechen, als mir der Zufall unerwartet sich so hold erwies.“

Er hätte hinzufügen können, daß er sich in der Nähe Franziska’s, die er in gleicher Weise wie Bernhard, aber mit größerem Rechte den „Cerberus“ nannte, nicht an sie gewagt, dagegen den ersten besten Vorwand erfunden hatte, seinen Vater zu bestimmen, allein vorauszufahren, und ihn noch einige Stunden in N. zu lassen, aber er unterließ wohlweislich diese Auseinandersetzungen und begehrte statt dessen, zu wissen, welchem Zufall er das Glück verdanke, Fräulein Günther hier zu sehen.

Lucie erzählte, etwas einsilbig und zurückgehalten, daß sie von A. kämen, welcher Unfall sie betroffen und daß sie im Begriff stehe, ihren Bruder aufzusuchen, der wahrscheinlich noch drunten im Thale sei. Bei der Erwähnung Bernhard’s verfinsterten sich die Züge des Grafen auffallend, und er warf höhnisch die Lippen auf.

„In Bezug auf Herrn Günther erlauben Sie mir wohl eine Frage, mein Fräulein. Ihr Herr Bruder hat mich vor einiger Zeit mit einem Briefe beehrt, der – darf ich fragen, ob Sie überhaupt davon unterrichtet sind?“

„Ich? Nein!“ Lucie sah ihn verwundert an; sie begriff nicht, wie Bernhard, der sich bei jeder Gelegenheit so eingenommen gegen den Grafen zeigte, dazu kam, an ihn zu schreiben. Ottfried lächelte wieder, diesmal aber mit dem Ausdrucke tiefster Befriedigung.

„Ich ahnte es! Dann fällt die Sache natürlich nicht auf Sie, und ich will Sie nicht weiter damit behelligen, obgleich ich allen Grund hätte, die Grausamkeit anzuklagen, die mir Ihren Anblick Monate lang entzog! O mein Fräulein –“

Er war jetzt völlig wieder in dem alten Fahrwasser und ließ auf’s Neue alle jene Künste der Schmeichelei und Galanterie spielen, mit denen er einst auf dem Balle das sechszehnjährige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_169.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2018)