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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Mädchen bezaubert hatte. Aber seltsam, das einst so bewährte Mittel wollte nicht mehr wirken, seit damals im Walde eine fremde Hand das Netz zerrissen, das er mit seinen Schmeichelworten um das Herz des unerfahrenen Kindes gewoben, seit diese Hand sich so ernst gebietend auf ihren Arm gelegt und sie weggerissen hatte aus der gefährlichen Nähe. Vielleicht war es auch eine unbewußte Vergleichung, bei der Ottfried verlor, denn wenn er auch jetzt das ganze Feuer verschwendete, das seinen matten Augen noch zu Gebote stand, sie kamen doch nicht auf gegen jenen dunkelglühenden Blick, der sich strafend, und doch mit so räthselhaft zwingender Gewalt in das Innere des jungen Mädchens gesenkt. Franziska hatte Recht. Lucie war eine Andere geworden seit jenem Tage; mit Gleichgültigkeit, ja mit Widerwillen wendete sie sich von einer Sprache ab, die sie einst mit so vielem Vergnügen angehört.

Dem Grafen entging es nicht, daß die junge Dame heute auffallend kühl und ernst aus den blauen Augen schaute, daß sie ihren Schritt auffallend beschleunigte und nur sehr einsilbige Antworten gab; aber an dem Eindrucke seiner Persönlichkeit zu zweifeln, fiel ihm natürlich nicht ein. Er schob dies veränderte Wesen gänzlich auf Einschüchterung von Seiten des Bruders und der Erzieherin und wurde allmählich kecker in Ton und Worten. Er klagte leidenschaftlich über die lange Trennung, verschwur sich hoch und theuer, daß keine Macht der Erde ihn zwingen werde, Rhaneck zu verlassen und nach der Residenz zurückzukehren, wenn er nur die Hoffnung habe, sie öfter sehen und sprechen zu dürfen, und war eben im Begriff, seine frühere Liebeserklärung, wenn auch mit Rücksicht auf den feuchten Lehmboden diesmal ohne Fußfall, zu wiederholen, als Lucie ihn auf einmal unterbrach.

„Ich bitte, schweigen Sie davon, Herr Graf! Ich will das nicht hören!“

Ottfried stutzte, er hatte diesen entschiedenen Ton gar nicht in dem jungen Mädchen gesucht. „Sie wollen es nicht hören?“ wiederholte er langsam, während sich ein leiser Hohn in seine Stimme mischte. „O mein Fräulein, könnten Sie wirklich so hart sein, mir jetzt ein Gehör zu verweigern, das ich doch einst bei Ihnen fand?“

Lucie erröthete, aber es war die Röthe der Scham und des Unwillens, die ihr das Blut in die Wangen trieb; zum ersten Male empfand sie jetzt das Beleidigende in dieser Art von Annäherung, das bisher ihrer Unerfahrenheit völlig entgangen war; aber mit dem Bewußtsein der Beleidigung kam auch der Stolz.

„Ich werde doch wohl die Freiheit haben, zu thun, was mir beliebt!“ entgegnete sie mit vollster Heftigkeit, „und ich erkläre Ihnen jetzt, Herr Graf, daß ich Sie nicht länger anhören mag. Verlassen Sie mich!“

Lucie irrte sehr, wenn sie glaubte, den Grafen dadurch zurückzuscheuchen; er war nicht der Mann, sich durch eine wenn auch noch so entschiedene Abweisung schrecken zu lassen, und der unerwartete Widerstand, der plötzlich hervorbrechende Trotz des jungen Mädchens, das er schon ganz in seinen Banden wähnte, gab ihr nur einen Reiz mehr in seinen Augen.

„Wie allerliebst Ihnen der Trotz zu Gesichte steht!“ sagte er mit malitiösem Lächeln. „Sie vergessen nur, daß wir allein sind und daß ich nicht der Thor sein werde, Ihnen zu gehorchen, wenigstens nicht, ohne vorher diesen reizenden kleinen Mund geküßt zu haben, der auf einmal so harte Worte spricht.“

Er beugte sich zu ihr nieder; aber in demselben Moment war Lucie auch schon drüben auf der andern Seite der Straße; glühend vor Zorn und Entrüstung blieb sie hier einen Augenblick stehen. Sie befanden sich gerade in jenem Punkte, wo der kürzere und freilich auch gefährlichere Weg, der von N. herab über die „Wilde Klamm“ führte, in die Fahrstraße mündete; seitwärts durch die Tannen schimmerten die weißen Mauern eines Gebäudes, der Wallfahrtskirche, die sie schon beim Heraufsteigen bemerkt hatten und die kaum hundert Schritte abseits vom Wege lag. Der Blick des jungen Mädchens überflog den letztern, ob der Bruder noch nicht nahe, und als nichts dort zu erblicken war, faßte sie rasch ihren Entschluß. Ohne ein Wort, ohne einen Blick weiter kehrte sie plötzlich dem Grafen den Rücken und schlug den Seitenpfad ein.

Ottfried stand anfangs betroffen von dieser Bewegung, die er sich nicht zu erklären wußte; gereizt folgte er ihr nach Verlauf von einigen Secunden, aber es war bereits zu spät. Aus den Tannen heraustretend, gewahrte auch er die vor ihm liegende Kirche und sah gerade noch, wie Lucie die Stufen hinaufschritt und in das offene kleine Gotteshaus eintrat.

Der junge Graf biß sich auf die Lippen. Er war doch zu sehr Katholik, zu sehr von Vater und Oheim in den Formen seiner Religion geschult, um nicht, wenn auch nur äußerlich, den Ort zu respectiren, wohin sich das junge Mädchen vor ihm geflüchtet. Mußte diese – unbequeme Kirche auch gerade hier am Wege liegen! Aber das Zurückbleiben hätte der Niederlage auf ein Haar gleich gesehen, und diesen Gedanken ertrug Ottfried nicht. Seine Weltgewandtheit kam ihm dabei zu Hülfe; er trat gleichfalls ein, bekreuzigte sich in vorgeschriebener Weise, machte dem Hochaltar eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und gesellte sich dann zu Lucie, indem er ruhig und artig, als sei nicht das Geringste vorgefallen, als sei ihr Gespräch nur eine harmlose Plauderei und das Benehmen, das er sich erlaubt, nur ein flüchtiger Scherz gewesen, fragte, ob Fräulein Günther nicht auch finde, daß die Kirchen hier zu Lande sehr schön seien.

Sie sah ihn im ersten Augenblick ganz fassungslos an. Wenn sie auch fühlte, daß er sofort den Ton geändert und daß sie hier wohl vor weiteren Zudringlichkeiten sicher war, diese Art, das Vorgefallene gänzlich zu ignoriren, verletzte sie fast noch mehr, als eine Erneuerung seiner Unverschämtheit es gethan hätte; ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendete sie ihm den Rücken.

Die Kirche war völlig leer, die Andächtigen hatten sie bereits sämmtlich verlassen und soeben trat auch der Priester aus der Sacristei, wo er die gottesdienstlichen Gewänder abgelegt hatte, hinter ihm kam der Meßner, der mit einem verwunderten Blick die Fremden maß und dann an ihnen vorüberging, um die Kirche zu verlassen und sich in seine dicht daneben gelegene Wohnung zu begeben; Benedict, der noch einige Minuten in der Nähe des Altars verweilte, wendete sich jetzt ebenfalls dem Ausgange zu.

Als sei der Blitz vor ihm niedergefahren und habe ihm für Minuten Sprache und Bewegung geraubt, so regungslos stand er da beim Anblick der Beiden, die er wohl unter Allen auf Erden hier am wenigsten vermuthet. In dem Moment, wo er Lucie erblickte, sah er auch den Grafen an ihrer Seite, und Alles, was dies Wiedersehen sonst vielleicht wach gerufen, erstarrte in einer tiefen tödtlichen Bitterkeit, aber die Hand ballte sich krampfhaft unter dem dunklen faltigen Gewande Das also hatte seine Warnung gewirkt!

Ottfried war nicht minder peinlich berührt durch das unerwartete Zusammentreffen. Der Zufall schien sich heute ganz und gar gegen ihn verschworen zu haben, aber er war gewohnt sich in ähnlichen Lagen rasch zu fassen und fühlte, daß er seine Niederlage hier um keinen Preis verrathen dürfe. Auf Luciens eigene ihm wohlbekannte Scheu vor dem düsteren Mönche bauend, grüßte er nachlässig und sagte scheinbar mit vollkommener Ruhe:

„Entschuldigen Sie, Hochwürden! Fräulein Günther wünschte auf einige Minuten hier einzutreten, Sie gestatten uns doch die Besichtigung Ihrer Kirche?“

Lucie erbleichte, diese kecke Unverschämtheit raubte ihr für den Augenblick nicht allein die Fassung, sondern auch die Kraft, sich dagegen zu erheben. Noch bleicher als sie aber war der junge Priester geworden, der Blick, der sie jetzt traf, war voll eisiger niederschmetternder Verachtung und doch barg sich tief dahinter etwas wie verzweifeltes Weh. Ohne auch nur ein einziges Wort an sie zu richten, wandte er sich dem Grafen zu.

„Unser einfaches Gotteshaus bietet keine Merkwürdigkeiten! Mir scheint, Herr Graf, Sie hätten draußen hinreichende und für Sie passende Unterhaltung genug gefunden, um die Kirche entbehren zu können!“

Was der Blick begonnen, das vollendete der schneidende Ton dieser Worte, sie gaben Lucie die Besinnung und die Sprache zurück, sie fühlte dunkel, daß sie Alles ertragen könne, nur nicht die Verachtung auf diesem Antlitz.

„Graf Rhaneck spricht die Unwahrheit!“ erklärte sie entschlossen, aber mit bebender Stimme, und es war nicht Ottfried’s Nähe, die sie jetzt erbeben machte. „Ich habe mich hierher flüchten müssen vor seiner Zudringlichkeit. Ich hoffte, die Kirche würde mir Schutz gewähren – Graf Rhaneck ist mir dennoch gefolgt!“

Ein Aufflammen brach glühend und leidenschaftlich hervor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_170.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)