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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

plötzlich erschien die Herrin des Hauses mit einer ängstlichen, verlegenen Miene, und im Vorbeigehen flüsterte sie schnell: „Dépêchez-vous, Monsieur – n’y restez pas“ (Eilen Sie sich, mein Herr – bleiben Sie nicht hier!) und verlor sich in den Gehegen.

Was sollte das bedeuten? Hatte sie Bemerkungen gehört? War es auf einen Ueberfall abgesehen? War es eine ernstliche Warnung oder ein schlechter Scherz? Jedenfalls wirkte die Mahnung auf mich. Ich verließ sofort meinen Platz und mit etwas gequält langsamen Schritten ging ich an dem Tische der drei Individuen, welchen ich passiren mußte, vorüber. Mein abermaliges „Bon jour, Messieurs!“ wurde jetzt ignorirt.

Als ich wieder in meiner Wagenecke saß und den Kutscher bedeutete, etwas zu eilen, ihm dann den Grund hiervon mittheilte, sagte der ehrliche Pommer: „So, so, dat soll woll sin.“

Das war wieder einmal eine Probe von der schon so oft besprochenen Unsicherheit in den occupirten Landestheilen Frankreichs, und ich muß gestehen, daß es mir zuletzt wie jedem andern Deutschen vom Civil in Frankreich erging, und daß ich anfing, mich daselbst ziemlich unbehaglich zu fühlen.

Ich eilte nach dem Elsaß, wo ich doch einer viel freieren Anschauung der Dinge und Verhältnisse, wie sie wirklich sind, begegnete. Ich erinnere mich dabei namentlich eines Mannes, der in der Nähe von Straßburg lebt und der auch Ihnen bekannt ist. Er ist, wie Sie wissen, ein Stück von einem Schriftsteller, von einem Poeten, und was er mir über das Elsaß und seine Bewohner bei meinen häufigen Begegnungen mit ihm sagte, schien mir bedeutend genug, es sofort zu notiren. Ich gebe es Ihnen darum auch hier wieder, so wie er es gesprochen. Dadurch behalten die Mittheilungen des alten Herrn ihre Unmittelbarkeit und erscheinen Ihren Lesern hoffentlich ebenso interessant, als mir.

„Es ist schon lange her“, erzählte mein wackerer Gastfreund im Elsaß, „daß ich als blutjunger Student in meinen Mußestunden zu dem Judenthore Straßburgs hinauseilte an das Ufer eines der Arme der grünen Ill. Dort hauste in einem alten Mühlengebäude der feurige und redliche deutsche Patriot Dr. Wirth mit seiner Familie in der Verbannung. Längst ruht er im Grabe und hat den Tag nicht heranbrechen sehen, der der Gegenstand seines tiefsten Sehnens und seines beharrlichsten Wirkens gewesen. Wie ein Seher saß er da in der mit Geisblatt und wilden Reben umsponnenen Laube, am Ufer des Flusses, umringt von einigen lauschenden Freunden. Deutschlands Größe, Freiheit und Einheit war immer das Centrum, um das sich seine begeisterte Rede bewegte. Seine Augen blitzten, die Stirnadern schwollen und alle Muskeln des männlichen, von edlen Leiden durchfurchten Antlitzes bewegten sich. So dachte ich mir fast den kühnen Doctor des sechszehnten Jahrhunderts, der mit dem Schwert des Geistes die Fesseln seiner Zeit zerschlug. Die fieberbleiche Gattin des Patrioten und Alle hörten ihm still mit lange verhaltenem Athem zu. ‚Ich sage Euch,‘ rief er mit lauter Stimme, ‚Deutschland wird eins und frei werden. Aber viele Opfer werden zuerst noch bluten und fallen. Und wenn auch ich, wie mir scheint, es nicht erlebe, so will ich dennoch nicht laß werden, darauf zu zeigen – und auch Ihr sollt es nicht.‘

So sprach er, indem er die letzten Worte an einige deutsche Studenten richtete, die der Politik halber sich nach Straßburg geflüchtet hatten und dort ihre akademische Zeit vollenden wollten. Und jetzt sich zu mir wendend, sagte er mit leuchtendem Blicke: ‚Mein junger Freund und Poet in deutscher Zunge, auch das Elsaß, das herrliche Land, ist deutsch; ich habe es bereist nach mancher Richtung hin, auf seiner Ebene, in seinen lieblichen Thälern und schattigen Bergen, überall hin habe ich mit Freude deutsche Art gefunden. Ja noch mehr, Ihr mögt staunen, wie Ihr wollt, das Elsaß ist in seinen Sitten und Gebräuchen, in seiner Sprache, in seiner Kleidung und Leben noch deutscher als manche Provinz unseres Vaterlandes, und es sollte an den Schwanz des gallischen Hahnes gebunden bleiben?!‘

Das war zu arg für mich. Das Elsaß sollte deutscher sein als Deutschland selber? Welch eine Behauptung! freilich aufgestellt durch einen Mann, den ich nicht allein als einen Wahrheit und Freiheit liebenden, sondern auch als einen hellsehenden Mann hochzuschätzen die Gelegenheit hatte. In der Vacanz, später in einem täglichen Berufsgeschäfte, in meinen Ausflügen durch das Elsaß – denn diese Behauptung kam mir nicht mehr aus dem Sinne – erkannte ich, daß das Elsaß sich durch unzählige Merkmale vom französischen Volke unterscheide.

Ich kam auch öfters nach Deutschland; und so sehr ich nicht allein durch meine Schulbildung, sondern auch durch meine innige und herzlichste Ueberzeugung an Frankreich hing, überall begleitete mich der Satz des Dr. Wirth, und ich erkannte in Begleitung eifrigen Studiums der Geschichte und der Ethnographie, daß über einen großen Theil Deutschlands – ich spreche nicht von einigen abgelegenen Gauen – ein großer Pinsel gegangen ist, der nicht allein das Aroma, sondern auch die Ursprünglichkeit der mannigfaltigen Formen und Farben des Volkslebens in eine Farbe zusammengetalkt hat. Ist es ein Uebel, ist es eine gleichgültige Sache oder ein Segen? Die Antwort auf diese Frage gehört nicht hierher. Jedenfalls ist ein gutes Stück Poesie dahin in den Gegenden, wo die am allerwenigsten poetische Göttin, die Mode, ihre uniformirende Herrschaft aufgeschlagen hat.

Aber, um wieder auf das Elsaß zurückzukommen, kann ich nach langer Anschauung und Erfahrung mit Zuversicht behaupten: Doctor Wirth hat Recht. Das Elsaß ist hinsichtlich seiner Sitten und Gebräuche, seiner Sprache, seines Charakters, in den von den Städten entfernten Gegenden deutscher als manche Gegend Deutschlands selbst. Oder vielmehr war es bis zu dem letzten Decennium. In den letzten zehn Jahren ist für die Französirung unserer zwei Departements mehr als in der ganzen Vergangenheit gethan worden.

In den Städten herrschte, besonders in denjenigen Kreisen, wo man sich um die Erwerbung der Civilämter bemühte, ein wunderliches Gebräu von Franzosenthum und Deutschthum. Ein ursprünglicher Bewohner des Elsasses, in dessen Familie die deutsche Sprache gesprochen wird, stellt seinen Kamm mit derselben Entschiedenheit gegen Deutsche und Franzosen. Es giebt oder gab viele französische Beamten, die die deutsche Sprache wenig oder gar nicht verstanden. Das gab von beiden Seiten im Geschäftsverkehr ärgerliche Auftritte. Da schimpfte der Elsässer auf den ‚Wälschen‘, wie er ihn spottweise nannte. Es war kein Wunder. Einnehmer aus dem Innern Frankreichs kamen, um die Abgaben einzucassiren, in die Dorfgemeinden des Elsasses und Deutschlothringens und hudelten die Leute hitzig aus, wenn dieselben bei vorkommenden Differenzen sich nicht in der französischen Sprache erklären konnten. Da fielen manchmal von Seiten der Ersteren Schimpfwörter, wie tête carrée, tête de choucroûte, die, wenn sie von den Bauern verstanden worden wären, den Schimpfenden hätten tüchtige Prügel zuführen können.

Am allerärgsten trieben es aber die meisten Inspectoren der Primärschulen. Trotz des jedesmaligen officiellen Versprechens der Präfecten bei ihrem Amtsantritte, die provinzielle Sprache und Sitte zu ehren, haben jene Unterbeamte die meiste Schuld, daß die deutsche Sprache in den Volksschulen immer spärlicher getrieben wurde. Die Lehrsprache war allein die französische. Und wenn ein Lehrer nicht seinem Gewissen eher gefolgt wäre, als dem heftigen Drängen der Inspectoren, so wäre der deutsche Unterricht fast ganz weggefallen. Die Pfarrer, besonders die protestantischen, nicht weil sie anti-französisch gestimmt waren, hatten für die größere Berücksichtigung der deutschen Sprache Kämpfe mit den Lehrern und, in Folge dessen, mit den Schulobern, ja mit den Präfecten zu bestehen, die sie ohne Grund der Deutschthümelei verdächtig machten.

Die Erlernung der französischen Sprache war nothwendig, aber nothwendiger blieb unterdessen die Erhaltung der deutschen Sprache für Schule, Kirche und Haus. In den letzten Jahren wurden auch die Schulen mit Lesebibliotheken bedacht.

Was waren aber das für Bücher? Die deutsche Literatur war von diesen Bibliotheken ausgeschlossen. Die Lieferung dieser Bücher war in den Händen einiger Buchhändler-Speculanten, die ungeheure Summen gewannen, weil sie um einen Spottpreis alle Ladenhüter zusammenkauften, und Crethi und Plethi an die Gemeinden um einen hohen Preis verkauften. Der Buchhändler Mame in Tours hat dabei Hunderttausende profitirt. Neben manchen guten Büchern findet man in diesen Bibliotheken den traurigsten Schund abgeschmacktester Lectüre, mittelmäßigstes Zeug, hier und da selbst weitschweifige elende Romane. In den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_174.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)