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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Frühjahre bevorstehende Eröffnung der von Lindau nach Bludenz führenden Bahn erschließt Vorarlberg dem allgemeinen Verkehr, und das bis jetzt kaum dem Namen nach bekannte, meist nur als ein Theil von Tirol angesehene Ländchen wird dann vielleicht nur allzu rasch aus seinem verborgenen Stillleben gerissen und überschwemmt von den vielsprachigen Fluthen, die gleich den vernichtenden und zugleich segensreichen Wogen eines ausgetretenen Gewässers alles Sonderleben, alle Eigenart unwiderstehlich überströmen und hinwegspülen, um dafür nur das fruchtbare abgesetzte Erdreich gleichförmiger Civilisation zu hinterlassen.

Aus dem bescheidenen Städtchen, das am unbestreitbar schönsten Punkte des Bodensees, auf dem Trümmerfels des alten Brigantium sich erhebt, ist dann wohl binnen wenigen Jahren ein lebhaft besuchter, rasch emporblühender Badeort geworden. Es bedarf dazu ja blos einer Laune der Mode, und sie wäre hier weniger unbegreiflich als in so manchen anderen Fällen, wo bei Weitem nicht alle Verhältnisse so günstig, alle Grundbedingungen in so reichlichem Uebermaße geboten sind, wie an der Ostbucht des schwäbischen Meeres, in der so malerisch an den bewaldeten Fuß des „Pfänders“ hingeschmiegten Landeshauptstadt Bregenz.

In einer solchen Zukunft, die sich heutzutage allerdings kaum erst ahnen läßt, wird dann eine Schaar vornehmer oder doch vornehmthuender Gäste in eleganten Toiletten die modernisirten Straßen, die Promenaden am lieblichen Seegestade und auch die aussichtreichen Höhen beleben, aber in gleichem Maße, als das Modejournal zur Herrschaft gelangt, dürften in der Menge auch jene originellen fremdartigen Erscheinungen immer mehr verschwinden, die schon jetzt, inmitten der dem Fortschritt huldigenden Stadtbevölkerung, im Ganzen nur vereinzelt und wie aus fernen Ländern oder ferner Zeit in die Gegenwart hereinverschlagen auftauchen. Es sind dies große altväterisch gekleidete Männer und durch ihre Tracht noch weit mehr auffallende schlanke, zuweilen sogar sehr hübsche Frauengestalten in spitzen Mützen, gestickten Miedern und faltigen Röcken, die vorzüglich an den Wochenmärkten zur Frühjahrs- und Herbstzeit in zahlreicheren Gruppen erscheinen und das Auge des Fremden fesseln.

Auf die neugierige Frage folgt dann die Auskunft: „Es sind Wäldler.

Die seltsame Gedankenreihe, die damit angeregt wird und die in der Regel zu den Hinterwäldlern Amerikas, zu den backwoodsmen, führt, hat aber nur geringe Berechtigung. Es sind keine Pionniere der Cultur, die in unzugänglichen Wäldern der Menschheit und den großen Ideen der Gesittung und Bildung die Pfade ebnen, sondern es ist ein allerdings wackeres und tüchtiges Volk, das aber in seiner jahrhundertelangen Abgeschiedenheit vielfach hinter den Anforderungen der Zeit zurückgeblieben und hauptsächlich der solchem Sonderleben günstigen Lage der heimathlichen Thäler die Bewahrung seiner vollen Eigenthümlichkeit fast bis auf den heutigen Tag verdankt.

Nur wenige Wegstunden von den Ufern des Bodensees entfernt liegt diese Heimath – der Bregenzer Wald.

Gleich dem Thüringer- oder dem Schwarzwald ist er ein reizendes Höhenland, das einen bedeutenden Theil von Vorarlberg bildet, dort, wo dieses mit seiner nordöstlichen Grenze an das bairische Allgäu stößt. Er umfaßt das ganze Quellgebiet der Bregenzer Ach, längs welcher die Ureltern der jetzigen Bewohner wohl schon im elften Jahrhundert vor den Raub- und Verwüstungszügen der für und wider den Papst streitenden Parteien aus den arg heimgesuchten Ortschaften des Rheinthals in die unzugänglicheren Berge hinaufflüchteten, wo sie Sicherheit und Ruhe für sich und in den anmuthigen Thälern die herrlichsten Weideplätze für ihre Herden fanden.

Lange war der Wald eine kleine Welt für sich, die nur durch schmale Saumwege mit dem Rheinthale, dem Seegestade und den bajuvarischen Nachbarn in Verbindung stand. Kaum ein halbes Jahrhundert ist es her, daß in diesen Thälern Fahrstraßen angelegt wurden. Selbst heute noch ist es nur ein sehr primitiver Poststellwagen, der den Verkehr mit Bregenz unterhält. Was aber der Reisende an Bequemlichkeit der Beförderungsart entbehrt, ersetzt ihm reichlich die entzückende Schönheit der Natur. Kaum irgendwo anders dürfte sich ein so überraschender, fast plötzlicher Uebergang von der breiten Flußebene zu einer Landschaft mit dem ausgesprochensten Charakter des Hochgebirgs finden, wie dies auf der Fahrt von Bregenz über Schwarzach und Alberschwende in den Wald der Fall ist.

Der Natur der Alpenlandschaft gemäß sind die Bewohner dieser Thäler vor Allem auf die Viehzucht angewiesen. Getreide wird fast gar keins gebaut, und dem Nutzertrage der Wiesen müssen sogar auch die Obstbäume weichen, wie denn auch der Wald immer mehr und mehr von seinen Stämmen auf dem Rücken der Ach zum See hinaussandte, bis die Bezeichnung „Wald“ fast im Widerspruche stand mit den weiten grünen Matten, die im Verhältnisse nur spärlich von immer mehr und mehr schwindenden Gehölzen unterbrochen werden. Wenn auch gerade noch kein Holzmangel eingetreten ist, so sieht man doch mit Besorgniß die gewaltigen Lichtungen, welche eine ungeregelte Speculation täglich noch vergrößert, ohne für Ersatz zu sorgen.

Jedes Hirtenvolk bewahrt etwas Nomadenhaftes. Je nach der Jahreszeit muß es für das Vieh andere Weideplätze aufsuchen. Im Hochsommer wirthschaftet auch im Bregenzer Walde der Senn allein mit seinen Gehülfen auf der hohen Alpenweide, und wohl in keinem andern Gebirgslande trifft man ansehnlichere, sogar ganz aus Stein und zwei Stockwerke hoch gebaute Sennhäuser wie im Bregenzer Walde; aber zweimal im Jahre, im Frühling und Herbst, ehe die Herden aufgetrieben oder wieder in den warmen Stall zurückgebracht werden, ist es, als werde die halbe Thalbewohnerschaft vom Wandertriebe erfaßt. Nur wer unbedingt daran verhindert ist, bleibt zu Hause; alles Andere, Alt und Jung, zieht auf die niedriger gelegenen Weiden und verbringt dort einige Wochen. Diese sogenannten Vor- oder Maiensäße bilden gewissermaßen wieder kleine Dörfer aus einfachen, nahe beisammen liegenden Blockhütten, in denen die Bewohner bei schlechtem Wetter eng eingepfercht liegen. Diese eigenthümliche Sitte hat leider auch für den Bildungsgang bedauerliche Folgen. Die Kinder sind dadurch am Schulbesuche verhindert, und der so für den Sommer überflüssig gewordene Lehrer, der noch bis vor Kurzem keine fixe Besoldung hatte, war dann gezwungen, sich als Maurer oder Waldarbeiter zu verdingen, um sich über die üble Zeit, so gut es anging, hinwegzuhelfen.

Die Ortschaften selbst sind nicht, wie in so manchen anderen Gebirgsländern, in einzelnen Höfen über weite Räume verstreut, sondern liegen geschlossen und in einer gewissen Regelmäßigkeit gebaut eng beisammen um die Kirche oder doch nahe derselben. Mit Ausnahme einzelner weniger sind die Häuser alle aus Holz und so ziemlich nach übereinstimmendem Modelle errichtet. Es sind niedrige, mit einem laubenartigen Vorbau versehene Blockhäuser, deren flaches Dach gegen die Gewalt der Stürme mit Steinen beschwert ist. Tiefes Dunkelbraun oder ein bräunliches Grau ist ihre Farbe, und selbst die wenigen steinernen Gebäude bringen keine Dissonanz in den warmen Ton, da sie durchgehends an den Außenwänden geschindelt sind. So ärmlich aber das Häuschen, so klein das Fenster sein mag, bei keinem fehlt der blüthenweiße Vorhang, und fast überall findet sich eine Reihe wohlgepflegter Blumen. An Gelassen ist freilich kein Ueberfluß. Die große Wohnstube mit ihrem unverrückbaren Tisch in der Herrgottecke muß nicht selten auch zugleich als Küche dienen, wozu der große Ofen ganz praktisch eingerichtet ist; aber Reinlichkeit und Licht fehlt nirgends, scheinen doch die Wände mitunter nur aus einer einzigen Reihe von Fenstern zu bestehen.

Das Licht ist aber auch unbedingt nöthig in den langen Wintern, weniger für die Holzschnitzerei der Männer, als vielmehr für die feine augenanstrengende Arbeit der Frauen. Nebst der Viehzucht, dem Handel in Milchproducten und Holz hat der Bregenzer Wald noch einen Haupterwerbszweig: die Weißstickerei. Obwohl durch die große Concurrenz der Maschinen auch dieser Erwerbszweig in letzter Zeit stark gelitten hat, verbringen die Wäldlerinnen doch fast ihr ganzes Leben am Stickrahmen, so daß sonst alle andere, selbst häusliche Beschäftigung zumeist dem Manne überlassen bleibt, was den Frauen für ihren leider nur kärglich gelohnten Fleiß noch obendrein den Vorwurf einbringt, als liebten sie es, sich bedienen zu lassen. Ein Spottwort sagt sogar: „Je tiefer in der Au, desto größer die Frau.“ Mit dem „tiefer in der Au“ ist auch das Vordringen gegen die Ach und ihre Zuflüsse gemeint, an denen sich zahlreiche Ortschaften befinden, deren Namen, wie Lingenau, Bezau, Schnepfau, Schoppenau, mit Au zusammengesetzt sind und so noch die Erinnerung an den alten Jagdboden wachhalten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_190.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)