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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 13.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser von „Ein Held der Feder“.


(Fortsetzung.)


Es war gegen Abend, als Günther in das erleuchtete Wohnzimmer trat, wo Fräulein Reich ihn allein am Theetisch erwartete.

„Wo ist Lucie?“ fragte er mit einem raschen Umblick durch das Gemach, in dem das junge Mädchen nicht zu entdecken war.

Franziska zuckte die Achseln und deutete auf das Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.

„Lassen Sie sie allein, es ist am besten so! Sie erträgt den Zwang nicht, den unsere Nähe ihr auferlegt.“

Günther legte Hut und Handschuhe bei Seite und trat näher zum Tische, seine Stirn war umwölkt.

„Ich habe dem Kinde diese Tiefe der Empfindung nicht zugetraut, am allerwenigsten einem Manne wie dem Grafen gegenüber. Sie muß mit förmlicher Leidenschaft an ihm gehangen haben, daß ihr sein Tod mit solcher Verzweiflung an’s Herz greift.“

Franziska schüttelte den Kopf; sie wagte es jetzt freilich nicht mehr, ihre frühere Behauptung aufrecht zu erhalten, und doch stand die alte Ueberzeugung in ihr fester als je.

„Wenn es nur auch wirklich dieser Tod ist,“ sagte sie kurz, „und nicht am Ende nur die Umstände, die ihn begleiteten!“

Bernhard, der im Begriff war, sich niederzulassen, hielt plötzlich inne und blickte sie überrascht an.

„Wie meinen Sie?“

„Ich meine“ – die Gefragte warf einen Blick auf die Thür des Nebenzimmers und senkte dann die Stimme – „ich meine, daß mir aus Luciens ganzem Wesen weit weniger Schmerz als Angst zu sprechen scheint, geheime, mühsam verhaltene Angst. Ich fürchte, sie weiß mehr von der unglückseligen Geschichte als wir allesammt, die Herren vom Gericht mit eingeschlossen.“

„Unmöglich!“ erklärte Günther entschieden. „Sie war ja mit uns in N., als die That geschah. Freilich auch mir ist in ihrem Benehmen Manches dunkel! Ich habe sie bisher geschont, und die Schonung war auch nothwendig; jetzt aber wird doch nichts Anderes übrig bleiben, als daß ich einmal ernstlich mit ihr spreche und sie auf irgend eine Weise zum Antworten zwinge.“

Franziska machte eine halb verächtliche Bewegung. „Das versuchen Sie einmal! Auch nicht eine Silbe werden Sie ihr abzwingen! Was dem Kinde plötzlich diesen furchtbaren Ernst, diese leichenhafte Starrheit gegeben, mag der Himmel wissen! Etwas Gutes ist es sicher nicht gewesen; aber ich sage Ihnen, sie versteht mit einer Energie zu schweigen, die nichts erschüttert, und wenn das noch länger so fortdauert, dann geht sie uns dabei zu Grunde. Ihre ganze Natur ist wie aus den Fugen gerückt.“

Bernhard gab keine Antwort, aber seine Stirn umwölkte sich noch mehr, während er nachdenkend den Kopf in die Hand stützte. Das plötzlich eingetretene Stillschweigen ward durch den Diener unterbrochen, der den Herrn Landrichter aus E. meldete.

Günther erhob sich rasch. „Sehr angenehm! Fräulein Reich,“ wandte er sich an diese, „bitte, gehen Sie zu Lucie und sagen Sie ihr, daß ich sie für den heutigen Abend dispensire. Ich will sie nicht der Marter einer Unterhaltung aussetzen, deren Hauptgegenstand jedenfalls wieder das unglückliche Ereigniß ist, das nun einmal die ganze Umgegend beschäftigt. Schicken Sie sie zu Bett, morgen werde ich mit ihr reden. Sie kommen aber doch jedenfalls zu uns zurück?“

Franziska nickte zustimmend und verschwand im Nebenzimmer, dessen Thür diesmal nur angelehnt blieb, während Günther dem Besuche, wie er meinte, entgegenging. Er war mit dem Landrichter bekannt und dieser bereits öfter als Gast in Dobra gewesen; er empfing ihn also auch heute in dieser Eigenschaft und lud ihn nach der üblichen Begrüßung ein, Platz zu nehmen. Der Beamte aber blieb diesmal stehen und sagte steif ablehnend.

„Ich danke! Ich komme in amtlicher Eigenschaft.“

„In der That?“ fragte Günther ruhig und völlig unbefangen, denn bei der Menge von Leuten, die er auf seinen Gütern commandirte, konnte allerdings leicht etwas vorkommen, das ein amtliches Einschreiten nothwendig machte. „Aber wir brauchen das doch hoffentlich nicht stehend abzumachen. Darf ich bitten?“

Der Landrichter wies auf’s Neue den dargebotenen Stuhl zurück. „Herr Günther, ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit. Meine Pflicht zwingt mich diesmal zu einem peinlichen Amte. Ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften.“

Günther trat zurück und sah den Beamten an, als habe er nicht recht gehört. „Mich verhaften? Mich? Sie sind im Irrthum, Herr Landrichter!“

„Ich bedaure,“ sagte dieser gemessen, „aber hier kann von keinem Irrthum die Rede sein. Der Befehl lautet ausdrücklich auf Ihre Person; ich muß Sie bitten, sich der Nothwendigkeit zu fügen und mir zu folgen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_201.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)